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Nr. 12 • Dezember 2013
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Berufspolitik
Eigentlich braucht die praktische
Medizin kein Menschenbild, denn
der Mensch kommt als Symptom-
träger zum Arzt, der dementspre-
chend eine Diagnose trifft, dann
nach den Leitlinien eine Therapie
vornimmt, schließlich gemäß einer
Erlössystematik die Rechnung stellt,
und dann zum nächsten Patienten
über geht. Auch in der Klinik ist bei-
spielsweise die diagnostizierte Herz-
klappeninsuffizienz von Zimmer x,
die operiert wird, Gegenstand des
Managements der Fälle, der Prozesse,
der Fehler und der Beschwerden mit
dem ultimativen Betriebsziel der
monetären Effizienzsteigerung medi-
zinischen Handelns. Mit dieser
fokussierten und industrialisierten
Arbeitsweise der Medizin, die durch
Algorithmisierung und Computer-
unterstützung zunehmend automa-
tisiert wird, sind viele Patienten ein-
verstanden.
Betrachtet man zusätzlich das Krank-
heitsmodell der Medizin, dann sieht
man ein Bild vorherrschen, in dem
die molekulare Maschinerie der
Organe, Zellen und subzellulären
Strukturen des Organismus in
Unordnung ist, die durch therapeu-
tische Reparaturmoleküle oder durch
deren Entfernung bzw. Substitution
wieder in Ordnung gebracht werden
kann (Ganten u. Ruckpaul 2007).
Allerdings zeigen Untersuchungen
zur Patientenzufriedenheit im Rah-
men des Qualitätsmanagements,
dass viele Patienten beklagen, zu
wenig mit dem Arzt über ihre Krank-
heit und die Therapie sprechen zu
können. Das scheint ein Hinweis zu
sein, dass Menschen als Kranke und
als Patienten im Gesundheitswesen
Subjekte sind, die also nicht nur eine
Krankheit haben, sondern auch ihre
Krankheit erleben, sie verarbeiten,
verstehen und sie inklusive der The-
rapie samt Nebenwirkungen und
Komplikationen in ihr weiteres
Leben einordnen wollen. Sprechen-
de, oder besser: zuhörende, also
kommunizierende Medizin ist
gewünscht, sie bildet sich aber
prinzipiell nicht im Erlössystem ab.
Zumindest dieser Aspekt der Medi-
zin, auf den bereits Viktor von Weiz-
säcker in seiner medizinischen
Anthropologie hingewiesen hat
(v. Weizsäcker 1927, 1940), könnte
ein Grund sein, in der Medizin stär-
ker darüber nachzudenken, „was der
Mensch ist“ und welches Bild wir in
der Medizin vom Menschen haben
sollen. Als Ärzte haben wir doch
nicht zuletzt unseren Beruf gewählt,
um anderen „Menschen“ helfen zu
können! Es fragt sich dabei auch,
nach Jahrzehnten immer subtiler
und umfänglicher arbeitender empi-
rischer Forschung, ob der konkrete
Mensch, so wie er ist, eine „Krank-
heit hat“, die er wieder weggeben
kann oder „krank ist“ oder gar die
„Krankheit macht“ (ohne dies natür-
lich explizit zu wollen). Gerade die
letztgenannte Sichtweise, die im
Kreise der Psychosomatiker nicht
selten vertreten wird, drängt sich
sogar durch die systemisch-moleku-
lare Medizin („Systems Medicine“,
EU 2013) auf: Die molekularen Sig-
nale des Nervensystems, des endo-
krinen Systems und des Immunsys-
tems sind auf zellulärer Ebene wech-
selseitig wirksam und führen zur
„Komorbidität“, beispielsweise bei
psychosozialem Stress. Allerdings
führt gerade auch eine molekulare
Ganzheitsmedizin zu einem materia-
listisch-deterministischen Weltbild,
in der der Mensch sich als extern
und intern determinierte molekulare
Maschine darstellt (Ganten u. Ruck-
paul 2007). Jedes Individuum wäre
somit eine spezifische Konstellation
von Molekülen, die durch die indivi-
duelle DNA festgelegt ist und deren
Expression durch Umwelteinwirkun-
gen modifiziert wird. Auch das Geis-
tige des Menschen könne auf das
Molekulare zurückgeführt werden,
so zumindest sieht es die moderne
klinische Neurobiologie, also Neuro-
logie und Psychiatrie. (kritisch dazu:
Tretter u. Grünhut 2010) Man
bekommt schließlich ein homogenes
materialistisches Welt- und Mensch-
bild und die Idee einer „personali-
sierten Medizin“ mit molekularbio-
logisch individuell zugeschnittenen
Pharmaka fügt sich lückenlos an
(EPMA 2013).
Also brauchen wir in der Medizin
kein Menschenbild, denn die Bioche-
mie bzw. Molekularbiologie liefert
uns genug Bausteine dafür. Außer-
dem: Die fiktive chemische Indivi-
dualität des Menschen widerspricht
ja einem generalisierten „Menschen-
bild“. Brauchen wir daher nur das
Individuum, den konkreten pyhsiko-
chemischen Organismus in Klinik
und Praxis betrachten?
Was sind eigentlich
Menschenbilder?
Die Einzelwissenschaften verstehen
Menschenbilder als Modelle vom
menschlichen Verhalten, die ein
typisches „Als-ob“-Verhalten abbil-
den. Das heißt, dass beispielsweise
der „Homo oeconomicus“ der Wirt-
schaftswissenschaften davon aus-
geht, dass der Mensch sich generell
und tendenziell so verhält, dass er
seinen Nutzen maximiert. Dieses
Konzept des – vor allem monetären
– Nutzenmaximierers wird nun auch
Ärzten generell unterstellt und der
„Homo curans“, als zumindest punk-
tueller empathischer Altruist, negiert
(kritisch dazu: Maio 2012). Darüber
hinaus gibt es den „Homo Neuro-
biologicus“ der Hirnforschung, der
annimmt, dass der Mensch nicht
mehr als seine Gehirnfunktionen ist.
Sinngemäß ist der „Homo geneticus“
der Genetiker und Molekularbiolo-
gen zu sehen, oder der „Homo socio-
biologicus“ der Soziobiologen usw.
(vgl. Menschenbildreihe Univ. Wien
2013:
). Für die
Medizin wurde der „Homo Patiens“
(Frankl 1950) formuliert, auch das
Konzept vom „Mängelwesen“
(Gehlen 1940) trifft sehr gut zu,
doch zunehmend wird der Kranke
als Homo oeconomicus konstruiert
(kritisch dazu: Unschuld 2006).
Bereits die Aufzählung solcher ein-
zelnen Menschenbilder verschiede-
ner empirischer Wissenschaften
wirft die Frage auf, ob eine Zusam-
menschau dieser Konzepte möglich
ist.
Dies führt zur philosophischen
Anthropologie, mit der Frage von
(Kant 1800): „Was ist der Mensch“?
Grundlegende Arbeiten aus dem
vorigen Jahrhundert (Heidegger
1927/2006, Scheler 1928, Plessner
1928, Gehlen 1940, Arendt 1958,
1960) und aktuelle Bücher zur philo-
sophischen Anthropologie (Bordt
2011, Thies 2009, Haeffner 2005)
charakterisieren den Menschen
mehrdimensional, d.h. als Person mit
einem leiblichen und geistigen
Bereich, mit einer konkreten Exis-
tenz im Räumlichen und Zeitlichen,
eingebettet in die soziale Mitwelt,
verbunden durch Sprache und Kul-
tur. Mit solchen sieben Dimensionen
des menschlichen Daseins lässt sich
der Mensch integral charakterisie-
ren, ohne dass er seiner Individuali-
tät verlustig wird oder dass bioche-
mische Argumente dafür konstruiert
werden müssen. Einige dieser
Dimensionen werden auch in der
allgemeinen medizinischen bzw.
biographischen Anamnese erhoben,
ohne allerdings ausreichend für die
Zusammenschau in Diagnose, Thera-
pie und Rehabilitation genutzt zu
werden.
Braucht die Medizin auch
Philosophie?
Der Blick auf die philosophische
Anthropologie lässt die Frage auf-
kommen, inwieweit Philosophie,
die bis vor einiger Zeit im Medizin-
studium im Rahmen des Philosophi-
cums integriert war, weiterhin in der
Medizin relevant ist. Philosophie ist
zwar schon über die Ethik bei For-
schungsfragen präsent, wenngleich
die Beachtung der Ethik in der Praxis
oft viel zu wünschen übrig lässt und
der ökonomischen Rationalität
untergeordnet zu sein scheint. Es ist
aber ebenso zu überlegen, neben der
philosophischen Anthropologie auch
die Wissenschaftstheorie und die
Erkenntnistheorie einzubeziehen,
um Grundfragen der Medizin kom-
petent zu erörtern. Die Medizin als
Wissenschaft diskutiert nämlich ihre
Erkenntnisgrenzen selten, etwa mit
Braucht die Medizin ein
Menschenbild ?
Medizin und Philosophie
Kommentar
An welchem Menschenbild orientieren wir uns
in unserem Handeln am Patienten?
Die Ansprüche der Patienten an die Medizin, an die tätigen Ärzte und das
Pflegepersonal wachsen kontinuierlich. Wir leben in einer Zeit, in der das
ärztliche Handeln genauso wie die Pflege einem steigenden Einfluss der
Ökonomie unterliegt. Seit Jahren weisen wir darauf hin, dass die Ökono-
misierung der Medizin zu Lasten der Patienten und der Arzt-Patienten-
Beziehung geht. Geändert hat sich dadurch nichts, im Gegenteil: Diese
Entwicklung schreitet fort. Ärzte und Pflegekräfte fragen sich deshalb,
ob die Behandlung unserer Patienten noch menschenwürdig ist.
Es kommt auf die Frage an, an welchem Menschenbild orientieren wir
uns in unserem Handeln am Patienten? Schon im hippokratischen Eid
wird ein idealtypisches Bild vom Kranken gezeichnet, das ihn als würde-
volles Wesen charakterisiert. Die Würde des Kranken wird mit der Ethik
des Arztes verknüpft. Dieses hippokratische Grundkonzept vom kranken
Menschen war lange Zeit für die Medizin Leitbild. Ein Aspekt ist dabei
entscheidend: Die Würde des Menschen, egal welcher Rasse, Hautfarbe
oder Religion er zugehörig ist, darf auch von Ärzten nicht angetastet
werden. In totalitären Staaten missachten Ärzte unter politischem Druck
dieses Leitbild. Ein auf Ethik und Moral basierendes Menschenbild wird
bewusst nicht definiert, um Ärzte für politische Ziele zu missbrauchen.
Dies gilt übrigens nicht nur für die Patientenversorgung, sondern auch
für die Wissenschaft.
Aber auch in nicht totalitären Staaten droht ein Missbrauch ärztlicher
Tätigkeit. Die zunehmende Ökonomisierung hat hier ein besorgniserre-
gendes Potenzial für die Klinik und die Praxis. Es besteht die Gefahr, dass
die Ärzte diesmal im Auftrag der Ökonomie instrumentalisiert werden.
Das ist bei der wachsenden Zahl älterer und oft auch kranker Menschen
in unserer Gesellschaft äußerst bedenklich. Die Politik muss im Interesse
der Daseinsfürsorge hier Einhalt gebieten.
Aus diesen Gründen scheint es sinnvoll, der Frage nachzugehen, ob es in
der heutigen Medizin nötig ist, auf ein Menschenbild zurückzugreifen,
das eine Grundorientierung für das praktische ärztliche Handeln bietet.
Der Beitrag von Prof. Tretter, München, geht dieser Frage nach.
Dr. Wolf von Römer
HFS
Der Patient als
Verbraucher
Im Vorfeld der Bundestagswahl hatte
sich auch die Verbraucherzentrale in
die politische Diskussion um unser
Gesundheitswesen eingemischt.
Beauftragt hat man das Emnid Institut
mit einer repräsentativen Umfrage,
wobei man sich zunächst mit der Not-
wendigkeit einer privaten Kranken-
versicherung beschäftigt hat. Danach
halten 83 % der Befragten die Gleich-
behandlung von privat und gesetzlich
Versicherten für sehr wichtig oder
wichtig. Dies verblüfft natürlich nicht.
Was kann man bei so einer Frage als
Antwort anderes erwarten, sind doch
etwa 90 % der Bevölkerung gesetzlich
versichert und hoffen, an den vermu-
teten oder tatsächlichen Vorteilen
einer privaten Versicherung teilhaben
zu können. Es geht vor allem um die
Gleichbehandlung, egal ob gleich gut
oder gleich schlecht.
Auch mit den Arzthonoraren beschäf-
tigt sich die Verbraucherzentrale,
wobei 81 % der Befragten „Gerechtig-
keit“ einfordern, die man durch glei-
che Honorare für PKV und GKV ver-
wirklichen will.
Zum guten Schluss geht man auch
noch mit den IGeL-Leistungen bei der
Umfrage ins Gericht.
Bleibt nur noch eine Frage offen: Wer
hat der Verbraucherzentrale diese
Fragen vorgeschlagen? Es kann sich
eigentlich nur um die Sozialdemokra-
tische Partei Deutschlands (SPD) oder
auch eventuell um den Spitzenver-
band Bund der gesetzlichen Kranken-
kassen gehandelt haben oder waren
es vielleicht alle beide?
HFS
Patientenumfrage der Verbraucherzentrale
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