Medizin
Nr. 6 • Juni 2013
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Nicht selten werden auch als Arznei-
mittel deklarierte Produkte zur
Behandlung ernster Erkrankungen auf
den Markt gebracht, die auch hierzu-
lande bekannte, jedoch nicht deklarier-
te Wirkstoffe, meist nicht einmal in
definierter Dosis, enthalten [5].
Schwerwiegende Nebenwirkungen
sind dann geradezu vorprogrammiert.
Als ein Beispiel hierfür mag der folgen-
de Fall stehen.
Kasuistik
Anamnese
Bei einem Treffen von Frauen vietna-
mesischer Herkunft, die alle bereits
40 Jahre in Deutschland leben, kursier-
te in der Runde ein nicht näher defi-
niertes Präparat, das eine von ihnen
kürzlich aus Vietnam mitgebracht
hatte. Es sollte bei Diabetikern den
Blutzucker senken und diabetogen ver-
ursachte Hauterkrankungen heilen. Der
deutsche Ehemann einer der Frauen
habe es mit Erfolg angewandt. Trotz
Warnung eines Mitautors nahm eine
der Frauen (59 Jahre alt), die seit Jahren
an einer chronisch-juckenden Hauter-
krankung unbekannter Ursache leidet,
dieses Mittel zu sich. Nach Aussage
ihrer Familie habe sie an 2 Tagen hin-
tereinander eine unbekannte Menge
des Mittels genommen. Sie sei darauf-
hin zunehmend schläfrig geworden
und habe fast den ganzen Tag geschla-
fen, habe aber am Abend mit ihrem
Mann zu Abend gegessen. Am folgen-
den Morgen verließ der Ehemann das
Haus, er nahm an, dass seine Frau wohl
noch schlafe. Nach seiner Rückkehr
gegen 19 Uhr fand er sie bewusstlos
vor.
Körperlicher Untersuchungsbefund
Beim Eintreffen des Notarztes war die
Patientin komatös, hypoton (RR 78/52),
tachykard (Puls 122/min) und febril
(39,1
o
C). Der Blutzuckerwert betrug
74 mg/dl. Sie wurde intubiert und
beatmet in die Medizinische Klinik des
Klinikums Leverkusen gebracht und auf
die Intensivstation verlegt. Unter konti-
nuierlicher Glukose-Infusion stieg der
Blutzuckerwert über die nächsten
9 Stunden von 71 auf 104 mg/dl. Die
Computertomographie des Thorax
zeigte eine beidseitige Pneumonie mit
Verdacht auf einen septischen Schock.
Ein CT des Schädels ließ ein Hirnödem
erkennen, das als Folge einer Enzepha-
litis interpretiert wurde. Das weitge-
hend unauffällige Ergebnis der andern-
tags erfolgten Lumbalpunktion bestä-
tigte die Verdachtsdiagnose allerdings
nicht, sodass die anfangs breit angeleg-
te antimikrobielle Therapie auf die
Gabe von Tazobac
®
und Cibrobay
®
beschränkt wurde. In der Folge norma-
lisierten sich die Infektionsparameter.
Die im Rahmen des septischen Schocks
durchgeführte Katecholamin-Therapie
wurde nach 4 Tagen beendet. Im weite-
ren Verlauf wurde die Sedierung der
Patientin ausgeschlichen, doch blieb sie
weiterhin komatös.
Eine MRT-Untersuchung des Schädels
15 Tage nach der Aufnahme der Patien-
tin ergab Zeichen einer stattgehabten
generalisierten zerebralen Hypoxie. Es
fanden sich ausgedehnte Läsionen in
beiden Großhirnhemisphären mit kor-
tikaler Betonung unter Einbeziehung
der Stammhirnganglien sowie des
mesialen Temporallappens, geringer
ausgeprägt im Bereich des Hirnstamms
und der weißen Substanz des Klein-
hirns. Eine okzipital betonte Beteili-
gung des Balkens sowie leichte diffuse,
ödematöse Veränderungen des supra-
tentoriellen Marklagers waren ebenfalls
feststellbar. Ein deutlich erhöhter NSE-
Serumwert (Neuronspezifische Enola-
se) bestätigte einen schweren hypoxi-
schen Hirnschaden.
Therapie und Verlauf
Die Patientin blieb in der Folge respira-
torisch stabil. Zwar konnte in der nach-
folgenden vierwöchigen neurorehabili-
tativen Behandlung eine Verbesserung
ihres Allgemeinzustandes erreicht wer-
den, doch war sie weiterhin nicht
ansprechbar, es bestanden Schwankun-
gen in der Vigilanz, psychomotorische
Unruhezustände traten auf. Nahrung,
Flüssigkeiten und Medikamente muss-
ten wegen der Gefahr der Aspiration
und bestehender Dysphagie weiterhin
über eine PEG-Sonde zugeführt wer-
den. Wegen anhaltender Pflegebedürf-
tigkeit und kontinuierlicher Beaufsich-
tigungspflicht wurde die Patientin in
eine Pflegeeinrichtung entlassen. Sie
starb fast 13 Monate nach dem Ereignis
ohne das volle Bewusstsein wiederer-
langt zu haben. Sie litt zuletzt unter
heftigen, symptomatisch epileptischen
Anfällen.
Ergänzende Untersuchungen
Zur chemisch-toxikologischen Untersu-
chung des Präparates aus Vietnam
kamen zwei Proben (4,96 und 5,56 g)
einer walzenförmig, grünlich, fleckigen
Masse, die unter Druck leicht verform-
bar war (Abb. 1). Das Präparat wurde
unter Zugabe von Methanol im Mörser
und im Ultraschallbad homogenisiert,
der Überstand nach Zentrifugation und
Filtration abgetrennt und nach Auf-
trennung in sauer und basisch extra-
hierbare Substanzen sowie Derivatisie-
rung der Analyse mittels Gaschromato-
graphie-Massenspektrometrie (GC/MS)
unterzogen. Dies führte, wie bei der
zusätzlich durchgeführten Analyse mit-
tels Flüssigchromatographie-Flugzeit-
massenspektrometrie (LC-TOF MS),
zum Nachweis des oralen Antidiabeti-
kums Glibenclamid. Die quantitative
Analyse der beiden Proben erbrachte
eine mittlere Konzentration von 1,1 mg
Glibenclamid pro g. Die beiden Präpa-
rate unterschieden sich imWirkstoffge-
halt um sogar 27 % (4,6 mg Glibencla-
mid in 4,96 g des einen Präparates bzw.
6,8 mg in 5,56 g des anderen Präpara-
tes).
Diskussion
Der im vorliegenden vietnamesischen
Präparat nachgewiesene Wirkstoff Gli-
benclamid (in den USA auch Glyburide
genannt) zählt zu den Sulfonylharn-
stoff-Derivaten, die als oral verabreich-
te Antidiabetika in einer Reihe pharma-
zeutischer Präparate enthalten sind.
Insofern ist bei der Einnahme des als
Phytopharmakon zur Behandlung von
Hyperglykämien deklarierten Präpara-
tes eine blutzuckersenkende Wirkung
zu erwarten. Offenbar hat sein Herstel-
ler den Wirkstoff Glibenclamid mit
einer pastenähnlichen Masse pflanzli-
chen Ursprungs vermischt und so in
den Verkehr gebracht. Weder im sog.
Beipackzettel ist vermerkt, um welchen
Wirkstoff es sich handelt, noch ist eine
exakte Dosierung bei der Einnahme
möglich. Auch ist unter diesen Herstel-
lungsbedingungen eine homogene
Durchmischung der Matrix mit dem
Wirkstoff zweifelhaft, wie dies die
quantitativen Analysen gezeigt haben.
Es handelt sich somit um ein „Arznei-
mittel“ mit zwar hoher Wirksamkeit,
dessen Einnahme jedoch mit dem Risi-
ko einer Hypoglykämie durch die unge-
naue Dosierung und Inkonsistenz der
Wirkstoffverteilung im Produkt ver-
bunden ist.
Bei der Einnahme von Sulfonylharn-
stoff-Präparaten stellt die Gefahr einer
schweren Hypoglykämie ein generelles
Problem dar, sowohl bei Typ-2-Diabeti-
kern als auch bei Stoffwechselgesun-
den. Die Patientin des vorgestellten Fal-
les zählt zur letzten Gruppe, ein Diabe-
tes lag bei ihr nicht vor. Sie wollte das
Präparat wohl zur Behandlung einer
schon länger bestehenden Neurodermi-
tis anwenden. In welchem Umfang sie
das Präparat tatsächlich eingenommen
hat, ist unbekannt geblieben. Die von
Angehörigen beobachteten Symptome
wie Schläfrigkeit können durchaus als
Anzeichen einer Hypoglykämie gewer-
tet werden. Der vom Notarzt ermittelte
Blutzuckerwert lag mit 74 mg/dl, bzw.
bei der Aufnahme mit 71 mg/dl in
einem niedrigen Bereich und ließ sich
trotz kontinuierlicher Glukose-Infusion
nur langsam auf einen Normalwert
(104 mg/dl) einstellen, was für Gliben-
clamid-Vergiftungen charakteristisch
ist [4]. Wahrscheinlich lagen zuvor
noch niedrigere Blutzuckerwerte vor,
wobei bei der länger anhaltenden
Hypoglykämie die physiologische
Gegenregulation einsetzte. Eine Blut-
analyse auf Glibenclamid war nicht
durchgeführt worden, da hierfür kein
Verdacht auf das Vorliegen dieser Sub-
stanz bestand. Ein Bewusstseinsverlust,
dessen Ursache letztlich unklar ist, mit
sich anschließender Aspirationspneu-
monie kann den weiteren Krankheits-
verlauf mit septischem Schock und
septisch bedingter Kardiomyopathie
erklären. Die durch die MRT-Untersu-
chung des Schädels nachgewiesenen
ausgedehnten zerebralen Schäden kön-
nen sowohl als hypoxisch-ischämi-
schen wie auch hypoglykämischen
Ursprungs angesehen werden.
Hypoglykämische Enzephalopathien
mit schwersten neurologischen Ausfäl-
len wurden beschrieben, oft als Apo-
plex mit folgender Halbseitenlähmung
diagnostiziert, bis hin zum irreversi-
blen Koma [3, 7–11]. So ließen sich,
wie auch im vorliegenden Fall, durch
bildgebende Verfahren (CT, MRT) in
kortikalen Bereichen, im Hippocampus
und den Stammganglien, vor allem
aber in der weißen Substanz, z. T. aus-
gedehnte Degenerationsherde erken-
nen.
Konsequenz für Klinik und Praxis
▶ Vor der unkritischen und unkontrol-
lierten Einnahme exotischer, oftmals
als „Phytopharmaka“ deklarierter
Präparate ist dringend zu warnen. Bei
deren Herstellung werden mitunter
auch bekannte, synthetische Wirk-
stoffe verwendet, die nicht deklariert
werden und deren Dosierung meist
unzureichend angegeben wird.
▶ Intensität und Charakteristik der
Wirkung, aber auch von Nebenwir-
kungen, können somit nicht abge-
schätzt werden. Darüber hinaus
besteht die Gefahr einer Überdosie-
rung mit schwerwiegenden Folgen.
Autorenerklärung: Die Autoren erklä-
ren, dass sie keine finanziellen Verbin-
dungen mit einer Firma haben. deren
Produkt in diesem Artikel eine wichtige
Rolle spielt (oder mit einer Firma, die
ein Konkurrenzprodukt vertreibt).
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1
Institut für Rechtsmedizin, Klinikum der
Universität Frankfurt/Main
2 Christliches Krankenhaus Quakenbrück
3 Med. Klinik 1, Klinikum Leverkusen
Korrespondenz
Prof. Dr. Stefan W. Toennes
Institut für Rechtsmedizin Klinikum der
Universität
Kennedyallee 104
60596 Frankfurt/Main
Telefon: 069/6301-7574
Fax: 069/6301-7531
eMail:
Der Beitrag ist erstmals erschienen in der
Deutschen Medizinischen Wochenschrift
(Dtsch Med Wochenschr 2013; 138:783–
785). Alle Rechte vorbehalten.
Schwere Enzephalopathie nach Einnahme
eines „Phytopharmakons“ aus Vietnam
Kasuistik
Alternative Heil- und Behandlungsmethoden erfahren eine unvermindert große Aufmerksamkeit in
der Bevölkerung. Exotische Arzneimittel, darunter zahlreiche als Phytopharmaka deklarierte Präparate,
spielen hierbei eine führende Rolle. Ihr Handel erfolgt vorwiegend über das Internet. Oft werden sie auch
bei Verwandtenbesuchen von Migranten mitgebracht. Der Anwender vertraut dabei auf die Angaben des
Produzenten, die sich in den meisten Fällen nicht oder nur schwer überprüfen lassen. So sind zahlreiche
pflanzliche und auch tierische Produkte in Präparaten enthalten, die z. B. in der traditionellen chinesi-
schen Medizin zur Anwendung kommen [1, 2, 5, 6, 12].
Abb. 1
Vietnamesisches Präparat zur Behandlung von erhöhtem Zucker im Urin