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Was digitale Hilfsmittel leisten

Wearables mit Notruffunktion, Sensoren in Trinkbechern oder Exoskelette: Die Möglichkeiten für technische Hilfsmittel in der Pflege scheinen schier unbegrenzt. Aber was ist in der Versorgung bereits verfügbar?

©Andrey Popov - stock.adobe.com

Das deutsche Gesundheits- und Pflegewesen steht vor großen Herausforderungen. Insbesondere der demografische Wandel, der Fachkräftemangel und der Strukturwandel im ländlichen Raum werfen verstärkt die Frage auf, wie die Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf auch zukünftig sichergestellt werden kann. Gleichzeitig besteht bei einer großen Mehrheit der Seniorinnen und Senioren in Deutschland das Bedürfnis, möglichst lange und selbstbestimmt zuhause zu leben. Im Falle einer Pflegebedürftigkeit wünschen sich viele eine Betreuung durch Angehörige oder einen Pflegedienst. Im Zuge des technischen Fortschritts wächst die Zahl an digitalen Hilfsmitteln, die hier als Unterstützung zur Verfügung stehen.

Besser als der Umzug ins Heim

Die Bevölkerung zeigt sich offen für diese neuen technischen Möglichkeiten, wobei knapp zwei Drittel den Einsatz digitaler Anwendungen einem Umzug in ein Pflegeheim vorziehen würden. Doch wie kann diese digitale Unterstützung in der Praxis konkret aussehen? Ein Ansatz ist die Integration von digitaler Technik in das Wohnumfeld. Unter dem Oberbegriff Ambient Assisted Living (AAL) werden digitale Techniken zusammengefasst, die im Alltag und bei der Pflege- und Gesundheitsversorgung unterstützen. Dies kann beispielsweise Sensorik umfassen, die durch automatisierte Lichtsteuerung Stürzen beim nächtlichen Toilettengang vorbeugt oder Alarme bei Notfällen auslöst. Weitere Möglichkeiten bieten GPS-Ortungssysteme die als Wearables (z.B. als Armbanduhr) getragen oder direkt in die Kleidung integriert werden können. Dadurch wird Menschen mit kognitiven Einschränkungen eine selbstständige und sichere Bewegung im Freien ermöglicht. Im Rahmen des Einsatzes von digitaler Technik in der Pflege sind grundsätzlich auch ethische, rechtliche und soziale Aspekte zu beachten. Hier stellen sich Fragen zu Themen wie freiheitsentziehenden Maßnahmen, informierter Einwilligung und dem Datenschutz. Darüber hinaus können auch Pflegende durch Digitalisierung bei physisch und psychisch anspruchsvoller Pflegearbeit entlastet werden. Sensorik kann beispielsweise in Trinkbechern eingesetzt werden, um einen Überblick über Flüssigkeitsmengen zu erleichtern, oder in Inkontinenzmaterialien und Bettunterlagen, um Feuchtigkeit zu detektieren. Digitale Wissensplattformen ermöglichen einen zentralen Zugang zu aufbereiteten pflegespezifischen Informationen.

Exoskelette, die bereits in der Industrie eingesetzt werden, können beim Heben und Lagern in der Pflege entlasten. Passive Stabilisatoren sind bereits im Einsatz, aber nur sporadisch. Motorisierte Produkte sind hingegen noch sehr teuer und müssen fein austariert werden. Hier liegt also Zukunftspotenzial. Auch digitale Apps aus dem Leistungsangebot der Kranken- und Pflegeversicherung finden zunehmend Eingang in die Versorgung. Bereits vorhanden sind digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs), die ärztlich verordnet werden können und Patienten beispielsweise bei Aphasien, Depressionen und chronischen Schmerzen unterstützen. Bald werden auch die ersten digitalen Pflegeanwendungen (DiPAs) für den Pflegebereich verfügbar sein. Ein vielversprechender Anwendungsfall ist die digital gestützte Einschätzung und Verlaufskontrolle des Sturzrisikos. Trotz des Potenzials hat bisher jedoch vergleichsweise wenig digitale Technik den Weg in die Versorgungspraxis gefunden.

Und die Digitalkompetenz?

Die Gründe hierfür sind vielfältig. Neben einer funktionierenden ITInfrastruktur mit zielgruppengerechten Endgeräten müssen die Nutzenden für eine erfolgreiche Anwendung auch über entsprechende Digitalkompetenzen und die finanziellen Mittel verfügen. Entscheidend für einen zukünftig vermehrten Einsatz von digitalen Hilfsmitteln in der Praxis wird ein breites Angebot an Unterstützung und Beratung bei Auswahl, Installation, Wartung und Finanzierung der entsprechenden Technik sein. Projekte wie „Daheim Dank Digital“ an der Agaplesion Bethesda Klinik in Ulm oder dem LebensPhasenHaus der Universität Tübingen spielen hier eine wichtige Rolle bei der Schaffung eines niedrigschwelligen Zugangs zu diesem Thema und zu den Technologien, indem sie Interessierten im Rahmen von Muster- und Experimentierumgebungen Einblicke in die Welt der digitalen Hilfsmittel ermöglichen und darüber informieren wo und wie die entsprechenden Technologien angeschafft und bezuschusst werden können.

Ein Beitrag von 
Jesse Berr, tätig im Landeskompetenzzentrum Pflege & Digitalisierung Baden-Württemberg

und

Dr. hum. biol. Sarah Mayer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geriatrische Forschung der Universitätsklinik Ulm; erschienen in der BDI aktuell 06/2023.