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Pflegereform: Wir sollten uns schleunigst einmischen!

Die Pflegereform droht zum Pflegedrama zu werden. Es ist höchste Zeit, dass wir uns als Ärzteschaft einbringen. Denn ohne gute pflegerische Versorgung funktioniert gute Medizin nicht – vice versa.

Schlechte Pflege begrenzt das Potenzial guter Medizin – jeden Tag, überall in Deutschland. Verordnungen machen einfach keinen Sinn, wenn sie nicht umgesetzt werden. Und ein einsamer, schlecht versorgter Senior kann den Nutzen seines interventionellen Klappenersatzes nur bedingt auskosten. Um es auf den Punkt zu bringen: Gute pflegerische Versorgung und gute Medizin verhalten sich zueinander wie Ying und Yang. Erst zusammen wird die Sache richtig rund.

Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass die laufende Pflegereform es bis dato nur vereinzelt in den ärztlichen Aufmerksamkeitsfokus geschafft hat. Dort gehört sie aber hin, da es sich im Politischen wie im Alltäglichen verhalten sollte: Was unsere Arbeit definiert, sollten wir gestalten.

Also, worum geht es? Vor allem getrieben durch die rasant steigenden Ausgaben der Pflegeversicherung sowie die verfassungsrechtlich festgelegte Notwendigkeit, die Kinderzahl der Beitragszahler konsequenter im Beitragssatz zu berücksichtigen, hat Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach das Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz vorbereitet.

Der Name lässt schon vermuten, dass es in dem Gesetz eigentlich um mehr als die oben genannten Punkte gehen sollte. Es bestand bei vielen der Wunsch nach einer Leistungsausweitung. Aufgrund von Sparnotwendigkeiten, auf die vor allem Bundesfinanzminister Christian Lindner pochte, wurde der Gesetzesentwurf in der Ressortabstimmung aber immer weiter zusammengestrichen. Nun sind alle unzufrieden, da die Kosten steigen, die Leistung aber nicht. Um es an einem Beispiel konkret zu machen: Das Pflegegeld und die Pflegesachleistungen sollen zum 1. Januar 2024 um 5% steigen. Bei der aktuellen Inflation bedeutet das real eine Leistungskürzung. Das Schlimmste an der Sache ist, dass alle wissen „nach der Reform ist vor der Reform“. Spätestens nach der nächsten Bundestagswahl wird das Geld schon nicht mehr reichen.

Verfolgt man die Diskussion, fühlt man sich wie in einem Drama. Eine der Protagonistinnen ist Maria Klein-Schmeink, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Grüne. Sie skizzierte kürzlich das Dilemma: Einerseits dürfe gute Pflege nicht vom Geldbeutel abhängen, andererseits müsse sie gerecht, stabil und verlässlich finanziert werden.

Noch steht der dramaturgische Höhepunkt aus, was man als politisches Versagen oder als Chance sehen kann. Oder anders formuliert, wir können als Ärzteschaft noch einen konstruktiven Beitrag leisten, um ein Scheitern zu vermeiden. Anstatt uns auf die ewige Diskussion von Delegation und Substitution ärztlicher Leistung zu beschränken, sollten wir unseren Blick weiten. Das Kernproblem wird doch in der Zukunft nicht sein, dass sich überschüssiges Pflegepersonal um unsere Aufgaben reißt. Im Gegenteil, es gibt schon jetzt zu wenig Pflegekräfte, weswegen alles getan werden muss, um diese knappe Ressource zu entlasten. Deswegen sollten wir uns fragen: Was könnten wir noch leisten, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden? Vielleicht gibt es auch noch weitere Wege, um mit unserer wissenschaftlichen Kompetenz die Effizienz des Systems zu erhöhen, bspw. durch telemedizinisch-geriatrische Versorgungskonzepte. Alle Mühen sind es wert, um den drohenden dramaturgischen Höhepunkt in einen erfreulicheren Wendepunkt zu verwandeln. Und selbst, wenn es uns als Gesellschaft nicht gelingen sollte, für alle Bürger eine gute und bezahlbare Pflege zu organisieren, sind wir als Ärzteschaft gefragt. Denn ist dann medizinisch noch gut und menschenwürdig, was bei einer guten pflegerischen Betreuung gut und menschenwürdig ist?

Ein Beitrag von Dr. Kevin Schulte, 2. Vizepräsident des BDI, erschienen in der BDI aktuell 06/2023