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Pflegereform – ein Blick in den ambulanten Sektor

Derzeit fließen Geld und politische Aufmerksamkeit überwiegend in Richtung Pflegeheim. Die allermeisten Pflegebedürftigen werden aber zu Hause versorgt. Welche Herausforderungen das für Praxen mit sich bringt.

© Phil Dera / BDI

Anfang April 2023 brachte Gesundheitsminister Karl Lauterbach die umstrittene Pflegereform auf den Weg. Das „Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz“ (PUEG), dem der Bundestag am 26. Mai zugestimmt hat, ist kein großer Wurf, aber die erste ernsthafte Erhöhung der Pflegesätze seit 2017. Welche konkreten Auswirkungen diese Reform auf die Gruppe der Pflegebedürftigen hat, wird man erst Anfang 2024 spüren. Dann steigen die Zahlungen für Pflegebedürftige um fünf Prozent, die Steigerung soll insgesamt dynamisiert werden.

Durchschnittlich erhalten damit etwa 2,4 Millionen Menschen 270 Euro pro Jahr mehr an finanzieller Zuweisung. Grundlage dafür ist die Erhöhung des Pflegebeitrags ab Juli 2023 für alle Versicherten um 0,35% auf dann durchschnittlich 3,4%. Unter Einbeziehung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts müssen Kinderlose 0,6% mehr zahlen, Eltern erhalten je nach Kinderzahl einen Abschlag.

Soweit die Fakten. Derzeit fließen Geld und politische Aufmerksamkeit überwiegend in Richtung Pflegeheim. Die allermeisten Pflegebedürftigen werden allerdings zu Hause versorgt. Warum sollte sich ein Berufsverband wie der BDI mit dieser Thematik befassen? Der exemplarische Blick in den ambulanten Sektor kann helfen, umfassende Lösungsstrategien für Gegenwart und Zukunft zu entwickeln. Der Anteil der über 65-Jährigen stieg seit 1991 bis heute auf 18,4 Millionen. Noch stärker wuchs im gleichen Zeitraum der Anteil der Hochbetagten. Innerhalb von 30 Jahren verdoppelte sich der Anteil der über 85-jährigen Menschen auf 2,6 Millionen. Pandemiebedingt ist die Lebenserwartung in den Jahren 2019 bis 2021 leicht gesunken, dies dürfte allerdings ein kurzfristiger Effekt bleiben. Die demografische Entwicklung und die damit verbundene Morbiditätsstruktur sind ein großes gesamtgesellschaftliches, aber auch ein medizinisches und berufspolitisches Thema. Seit Jahren liegt die Forderung der Ärzteschaft auf dem Tisch, das Morbiditätsrisiko nicht allein schultern zu müssen, sondern Entlastung durch Krankenkassen und Politik zu erhalten. Bisher ohne Erfolg.

Kooperation dank Fax und Telefon

Neben der Änderung der demografischen Kennzahlen kommt ein weiteres Problem hinzu: die Vereinsamung vieler Menschen, nicht nur im Alter. Traditionelle Familienstrukturen sind vielerorts nicht mehr vorhanden, der Anteil von Single-Haushalten in Großstädten liegt mittlerweile bei über 50 Prozent. Damit werden die Herausforderungen für die medizinische und pflegerische Versorgung der älteren Menschen noch größer.

Schaut man in die bestehenden Strukturen der ambulanten Versorgung, ist die Resonanz seitens der Pflegedienste sehr heterogen. Positiv hervorzuheben bleibt: Die Kooperation mit den grundversorgenden Haus- und Facharztpraxen funktioniert meist reibungslos – dank Fax und Telefon. Die Digitalisierung ist auch in diesem Bereich noch ausbaufähig. Das Gesetz sieht neben einem Förderprogramm für digitale Anschaffungen in Pflegeeinrichtungen ein Kompetenzzentrum für Digitalisierung und Pflege vor. Ziel ist es, Digitalisierung für die pflegerische Versorgung zu nutzen und in die Praxis umzusetzen.

Daneben ist die allgemeine Mängelliste lang: Fachkräftemangel, Mangel an motivierten, zuverlässigen Azubis, lange Wartezeit bis zur Genehmigung von Pflegeanträgen durch die zuständigen Kostenträger (Kommune, Landschaftsverband). Dazu kommt ein nicht unerheblicher Kostendruck in Verwaltung und Logistik. Die Folge: Ambulante Pflegedienste sparen an Personal oder wirtschaften so schlecht, dass der Weg in die Insolvenz als einzige Lösung bleibt. Dies alles sind Beispiele aus Nordrhein, in anderen Bundesländern dürfte die Situation ähnlich aussehen.

Die Ärzteschaft ist gefordert, ihre Position zu schärfen und die Möglichkeiten einer verbesserten Kooperation mit Pflegediensten und anderen Leistungserbringer auszuloten. Das „Dialogforum Junge Ärztinnen und Ärzte“ auf dem Ärztetag in Essen wünschte sich zwar eine klare Festlegung von ärztlichen Kompetenzen, sieht aber gleichzeitig die Zukunft im Ausbau interprofessioneller Zusammenarbeit mit Gesundheitsfachberufen auf Augenhöhe. Um Antworten auf die großen Herausforderungen in der ambulanten Versorgung zu finden, gehört neben der innerärztlichen Diskussion ein Dialog mit Vertretern der Pflege und anderer Professionen dazu. Der BDI wird diesen Dialog voranbringen.

Ein Beitrag von Dr. Ivo Grebe, BDI-Vorstandsmitglied, erschienen in der BDI aktuell 06/2023