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Primärarztsystem

Mit der geplanten Einführung eines Primärarztsystems rückt die Frage nach einer modernen und tragfähigen Patientensteuerung in den Mittelpunkt. Eine pauschale Hausarztzentrierung greift dabei zu kurz. Gefragt ist ein differenziertes Konzept, das die Realität der Versorgung abbildet, hausärztliche und fachärztliche Expertise verknüpft und digitale Ersteinschätzung konsequent nutzt. Nur so lassen sich Patientenpfade effizient lenken, ambulante Strukturen stärken und die Qualität sichern.

Steuerung sinnvoll gestalten

Die Diskussion über eine zielgerichtete Patientensteuerung im deutschen Gesundheitswesen hat durch den Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD neuen Auftrieb erhalten: Dort ist die Einführung eines verbindlichen Primärarztsystems sowohl in der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) als auch im Kollektivvertrag als gesundheitspolitisches Ziel verankert. Bislang sind keine Details bekannt und die gesetzgeberische Umsetzung steht frühestens 2026 auf der Agenda. Klar ist jedoch: Was jetzt beschlossen wird, greift langfristig tief in die Versorgungsrealität ein.

Parallel wächst der Druck zur Ambulantisierung – eine Entwicklung, die angesichts der angestoßenen Strukturreform im stationären Bereich weiter an Dynamik gewinnt. Wenn mehr Leistungen außerhalb des Krankenhauses erbracht werden sollen, müssen Patientenpfade konsequent neu gedacht und sektorenverbindend organisiert werden. Patientensteuerung ist dabei kein Selbstzweck. Sie soll Ressourcen bedarfsgerechter einsetzen, Über- und Fehlversorgung vermeiden und die Qualität sichern.

Internationale Erfahrungen zeigen: Primärarztsysteme funktionieren nur, wenn sie zu den Strukturen eines Landes passen und nicht als Kopie fremder Modelle, die andere europäische Länder vor anderthalb Jahrzehnten eingeführt haben. Das deutsche Gesundheitswesen zeichnet sich durch eine wohnortnahe, hochtechnisierte und spezialisierte ambulante Versorgung aus. Wenn diese Ressourcen durch ein Primärarztsystem mit Haus- und Fachärzten gezielter angesteuert und digital unterstützt werden, entsteht ein Mehrwert für die Patientenversorgung. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der ambulante Bereich im Zusammenspiel mit dem stationären Sektor strukturell gestärkt und leistungsgerecht finanziert wird.

Weil das deutsche Gesundheitswesen hoch ausdifferenziert ist, braucht es eine Reform in der richtigen Reihenfolge. Wichtig dabei ist, zwischen einer bedarfsgerechten Steuerung in der Notfallversorgung einerseits und der Regelversorgung andererseits zu unterscheiden. Alles auf einmal zu verändern, überfordert Strukturen und Menschen. Der BDI schlägt deshalb einen stufenweisen Einstieg vor, der mit der konsequenten Steuerung im Akutund Notfall beginnt – mit digital gestützter Ersteinschätzung, einheitlichen Anlaufstellen sowie klaren Schnittstellen zwischen der Patientenservicenummer 116117, Rettungsdienst, Portalpraxen und Notaufnahme. Das reduziert Fehlwege und schafft Luft für die Regelversorgung. Erst wenn diese Basis geschaffen ist, sollte der nächste Schritt folgen.

Unsere Forderungen im Detail

Die Einführung eines Primärarztsystems ist keine dogmatische Systemfrage, sondern eine gemeinsame Aufgabe. Für eine zukunftsfähige, patientenzentrierte Steuerung in der Regelversorgung sind aus Sicht des BDI sechs Prinzipien zu berücksichtigen:

1. Hausärztinnen und Hausärzte gezielt entlasten

Laut Daten des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) finden pro Jahr rund 100 Millionen fachärztliche Behandlungsfälle ohne vorherigen hausärztlichen Kontakt statt. Auch wenn nicht alle dieser Fälle unter die Steuerung durch ein Primärarztmodell im Sinne des Koalitionsvertrages fallen, erscheint eine pauschale Verpflichtung, alle Versicherten zunächst durch die Hausarztpraxis zu führen, angesichts der ebenfalls begrenzten hausärztlichen Ressourcen nicht sinnvoll. Eine überlastete Praxis verbessert die Versorgung nicht, sondern produziert im Zweifel zusätzliche Arztkontakte.

Ein Primärarztsystem muss deshalb darauf ausgelegt sein, Hausärztinnen und Hausärzte gleichzeitig zu entlasten, damit sie nicht zum Flaschenhals im Versorgungspfad werden. Nötig ist ein System, das Hausärzte fokussiert einsetzt und eine qualifizierte Überweisung zum Facharzt zeitnah und bürokratiearm ermöglicht.

2. Vorgelagerte Ersteinschätzung verankern

Patientensteuerung darf nicht erst in der Notaufnahme oder in der Arztpraxis beginnen. Um Versorgungswege effizient zu nutzen und Kapazitäten gezielt einzusetzen, braucht es auch in der Regelversorgung eine strukturierte Ersteinschätzung, wie sie in der Notfallversorgung bereits angewendet wird. Ein solches System muss digital gestützt, durch geschultes Personal begleitet und flächendeckend verfügbar sein. Ziel ist es, den medizinischen Behandlungsbedarf frühzeitig zu erfassen und die Patientinnen und Patienten direkt in die passende Versorgungsebene zu lenken – ob Hausarzt, Facharzt oder Krankenhaus. Damit dieses Verfahren funktioniert, ist entscheidend, dass es eine klare, zeitnahe Rückmeldung mit konkreter Handlungsanweisung gibt.

3. Vorsorge und fachärztliche Weiterbehandlung

Nicht jede medizinische Maßnahme benötigt die Steuerung durch den Hausarzt. Vorsorgeuntersuchungen wie die Koloskopie oder Mammographie unterliegen einer klaren Indikationsstellung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss. Auch die fachärztliche Weiterbehandlung, etwa mit klar definierter Überweisung aus dem Krankenhaus (zum Beispiel nach einer Krebserkrankung), muss ohne erneute hausärztliche Einschaltung möglich bleiben. Eine gute Steuerung erkennt an, wo der Versorgungspfad bereits standardisiert und effizient ist.

4. Fachärztliche Steuerung

Je nach Bedarf kann die Steuerungsfunktion sowohl von einem Hausarzt als auch von einem Facharzt übernommen werden. Chronisch schwer Erkrankte benötigen in der Regel eine spezialisierte und kontinuierliche fachärztliche Betreuung. Für diese definierten Patientengruppen, wie zum Beispiel Dialysepflichtige, Menschen mit Typ-1-Diabetes oder schwerer Herzinsuffizienz, sollte deshalb der behandelnde (internistische) Facharzt die Versorgung direkt koordinieren – natürlich abgestimmt mit dem Hausarzt und über Sektoren hinweg. Das stellt keine Schwächung der hausärztlichen Primärversorgung dar, sondern entlastet die Hausarztpraxen, sichert die Behandlungsqualität und entspricht der tatsächlichen Versorgungspraxis.

5. Entbudgetierung

Ein medizinisch sinnvoll gesteuertes System darf weder in der Haus- noch in der Facharztpraxis an Budgetgrenzen scheitern. Fachärztliche Leistungen, die auf einer qualifizierten hausärztlichen Indikationsstellung beruhen, müssen angemessen und extrabudgetär vergütet werden, denn ihr Bedarf ist bereits nachgewiesen. In einem qualitätsorientierten Primärarztsystem hat eine pauschale Budgetierung keinen Platz; sie würde die Steuerung an zentraler Stelle konterkarieren.

5. Verbindlichkeit

Ein wirksames Primärarztsystem braucht ein Mindestmaß an Verbindlichkeit. Um Mehrfachinanspruchnahmen zu vermeiden, sollten sich Patientinnen und Patienten für eine definierte Zeitspanne auf eine primärärztlich tätige Praxis festlegen. Entscheidend ist, dass die gewählte Praxis als erste Anlaufstelle fungiert, den Behandlungsbedarf einschätzt und gegebenenfalls gezielt überweist. Die bisherige Ausgestaltung der HzV lässt hier eine steuerungspolitische Lücke, die geschlossen werden muss.