Patientenwohl im Mittelpunkt
Patientinnen und Patienten genießen in Deutschland das hohe Gut der freien Arztwahl. Der Zugang zum niedergelassenen Haus- und Facharzt ist ebenso niedrigschwellig möglich wie zur stationären Versorgung. Gleichzeitig hat Deutschland im internationalen Vergleich eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Arzt-Patienten-Kontakten. Laut Daten der OECD (2021) gehen die Deutschen knapp zehnmal pro Jahr zum Arzt. Damit hat sich die Konsultationshäufigkeit in den letzten dreißig Jahren nahezu verdoppelt. Zudem sind die Notaufnahmen in den Krankenhäusern häufig mit Menschen überfüllt, die medizinisch-objektiv betrachtet keine echten Notfälle sind.
Aber nicht nur die unnötige und ineffiziente Inanspruchnahme von Leistungen belastet unser Gesundheitssystem. Auch die wachsende Komplexität von Erkrankungen und deren Behandlungsverläufen, die in einer alternden Bevölkerung stetig zunehmen, sowie der Fachkräftemangel im ärztlichen Bereich und in anderen Gesundheitsberufen führen unweigerlich zu Kapazitätsengpässen. Das geht zu Lasten tatsächlich notwendiger, relevanter Behandlungen (Wartezeiten) und bringt das System auch personell (Arbeitsbelastung) und finanziell (steigende Behandlungskosten und Kassenbeiträge) an seine Belastungsgrenze.
Die Notwendigkeit, die gesundheitliche Versorgung in Deutschland einer stärkeren Steuerung zu unterziehen, hat deshalb auch der Sachverständigenrat (SVR) Gesundheit und Pflege in seinem Gutachten 2018 in den Fokus gerückt. Dabei stellt der Rat klar, dass Steuerung in einem komplexen System nicht im Widerspruch, sondern in einem komplementären Verhältnis zur Selbstbestimmung des Patienten steht. Auch wenn damit nicht jeder subjektiv empfundene Bedarf befriedigt werden kann, ist die bedarfsgerechte Steuerung von Patientenwegen ausdrücklich gerechtfertigt, weil sie einerseits dem individuellen Patientenwohl dient und andererseits die Solidargemeinschaft davon profitiert, dass die begrenzten Ressourcen effektiv und effizient eingesetzt werden.
Steuerungsdefizite, die ohne Zweifel bestehen, können aber nicht nur durch mehr, sondern auch durch gezieltere Steuerung ausgeglichen werden. Mittel- und langfristig kommen neben organisatorischen Veränderungen auch der individuellen Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger sowie der Prävention entscheidende Rollen zu. Ein grundlegendes, medizinisches Verständnis und die kritische Auseinandersetzung mit Gesundheitsinformationen, zu denen unter anderem das Wissen über Zugangsmöglichkeiten und Versorgungspfade gehören, sind die Grundvoraussetzung, um selbstbestimmt gute und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen zu können.
Unsere Forderungen im Detail
Den Weg in die richtige Versorgungsebene zu finden, ist für Patientinnen und Patienten oft nicht leicht. Besonders an der Sektorengrenze stehen die Strukturen zunehmend unter Druck. Der BDI fordert deshalb die Politik und Selbstverwaltung auf, die strukturellen und inhaltlichen Voraussetzungen zu schaffen, um Patienten bedarfsgerecht durch das System zu lotsen:
1. Notfallversorgung
Die Unterscheidung zwischen Patienten, die einer sofortigen medizinischen Intervention bedürfen, und Patienten, die auch während der regulären Praxisöffnungszeiten vertragsärztlich versorgt werden können, ist eine wichtiger Schritt zur
Entlastung der Notaufnahmen. Ausschlaggebend ist, dass Akutpatienten niedrigschwellig, unmittelbar und präzise in die richtige Versorgungsebene geleitet werden. Das beinhaltet nicht nur die Entscheidung darüber, ob ein Notfall stationär oder vertragsärztlich versorgt wird, sondern auch die spezifische Zuweisung innerhalb eines Sektors durch ein entsprechendes nachgelagertes Vermittlungssystem (s. BDI Position Notfallversorgung). Im Optimalfall erfolgt eine strukturierte medizinische Ersteinschätzung bereits vor dem Gang in die Notaufnahme telefonisch, digital oder durch eine integrierte Leitstelle.
Der BDI bekräftigt seine Forderung nach einer verbindlichen Ersteinschätzung für die Notfallversorgung.
2. Versorgungspfade
Das deutsche Gesundheitswesen ist derart komplex, dass spezielles Orientierungswissen notwendig ist, um im Krankheitsfall den richtigen Versorgungspfad zu beschreiten. Ärztinnen und Ärzte übernehmen deshalb die Aufgabe, Patientinnen und Patienten durch das System zu lotsen. Neben der hausärztlichen Versorgungsebene sind insbesondere grundversorgende Fachärzte – für die langfristige Betreuung chronisch Kranker internistische Fachärzte – die primäre Anlaufstelle.
Freiwillige Versorgungsmodelle zur Patientensteuerung haben sich noch nicht durchgesetzt. Verbindliche Versorgungspfade, bei denen Haus- oder Fachärzte die Betreuung übernehmen, könnten den Steuerungseffekt deutlich erhöhen. Die freie Arztwahl in der jeweiligen Versorgungsebene muss davon unberührt bleiben. Voraussetzung für die erfolgreiche Einführung ist jedoch, dass bestehende Fehlanreize im Honorarsystem und Fehlsteuerung abgeschafft werden. Das gilt insbesondere für die Budgetierung der ambulanten Versorgung, da Ärztinnen und Ärzte in diesem System die Mengensteuerung nicht beeinflussen und somit auch die wirtschaftliche Verantwortung für ihr Budget nicht übernehmen können.
Der BDI fordert die Einführung verbindlicher Versorgungspfade verbunden mit der Entbudgetierung der ambulanten Versorgung.
3. Bedarf
Die geplante Krankenhausstrukturreform sieht eine deutliche Konzentration und Vernetzung der stationären Versorgungslandschaft vor. Eine Zentrenbildung (hoch-)spezialisierter, stationärer Leistungen ist nicht nur unter qualitativen Gesichtspunkten, sondern auch mit Blick auf die begrenzten pflegerischen und ärztlichen Ressourcen sinnvoll. Für eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung müssen diese Strukturen jedoch in bestehende Versorgungspfade integriert werden. Die stationäre Grund- und Regelversorgung muss dabei flächendeckend erfolgen.
Der BDI fordert die bedarfsgerechte ärztliche Zuweisung von Patienten in Krankenhäuser mit indikationsgerechten Versorgungsschwerpunkten.
4. Entlassmanagement
Ein reibungsloser, bedarfsgerechter Übergang muss auch aus dem Krankenhaus in die poststationäre Behandlung gewährleistet sein. Dafür gilt es, das Entlassmanagement als Prozess und nicht als einzelne Handlung zu verstehen. Zunehmend kürzere Verweildauern diktieren, schon bei der Aufnahme des Patienten den Bedarf an weiterer Versorgung nach der Entlassung festzustellen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Dabei ist die Zusammenarbeit zwischen der stationären und ambulanten Versorgung entscheidend. Eine digitale sektorenübergreifende Vernetzung der Leistungserbringer ist dafür dringend erforderlich.
Der BDI fordert die Einführung eines sektorenübergreifenden, digitalen Entlassmanagements.
5. Evaluation
Die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems in Bezug auf eine effizientere Steuerung von Patientenströmen ist kein einfaches Unterfangen. Umso wichtiger ist es, dass die Vorteile, sich als Patient verbindlichen Versorgungspfaden zu verschreiben, einer nicht-konformen Inanspruchnahme deutlich überwiegen. Ob sich bestehende Anreize, wie zum Beispiel eine höhere Behandlungsqualität und geringere Wartezeiten, tatsächlich als ausreichend erweisen, um einen nachhaltigen Steuerungseffekt zu erzielen, muss evaluiert werden.
Der BDI fordert, Steuerungsmaßnahmen umfassend auf ihre Entlastungseffekte zu evaluieren.