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Verbindliches Primärarztsystem – unrealistisch oder ein Gewinn für alle?

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Die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) will mit dem Primärarztmodell die medizinische Versorgung in Deutschland verbessern. Das im Koalitionsvertrag geplante Modell sieht vor, dass Patientinnen und Patienten in der Regel zunächst zu ihrer Hausärztin oder zu ihrem Hausarzt gehen sollen, der sie dann bei Bedarf an Fachärztinnen oder Fachärzte überweist. Nach den Vorstellungen der Bundesregierung sollen von einem Primärarztsystem sowohl Leistungserbringer als auch Patienten und Patientinnen profitieren. Facharztpraxen können durch richtiges Zuordnen der Patientinnen und Patienten entlastet werden und damit Wartezeiten reduziert werden, kranke Menschen profitieren von der Kompetenz und den Kontakten der Hausärztinnen und Hausärzte. Als Vorbild für das Primärarztsystem wird in diesem Zusammenhang die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) in Baden-Württemberg genannt, welche bereits ein funktionierendes Primärarztsystem auf freiwilliger Basis etabliert hat. Sie soll als Modell für die bundesweite Einführung des Primärarztsystems dienen.

Hintergrund ist die Kritik an einem überlasteten, ineffizienten Gesundheitssystem, was zudem zu den teuersten Gesundheitssystemen in Europa gehört. Obwohl die Deutschen im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern doppelt so viele Arztkontakte haben, sind die Menschen in Deutschland nicht gesünder und mehrheitlich unzufrieden mit der medizinischen Versorgung. Das liegt daran, dass Hausärztinnen und Hausärzte überlastet sind und deshalb von den Versicherten häufig der Weg direkt zu einem Facharzt oder einer Fachärztin gewählt wird. Dabei stellt sich dann nicht selten heraus, dass der in Eigeninitiative gewählte Facharzt oder die Fachärztin nicht der richtige Ansprechpartner für das Problem ist. Dies ist doppelt ärgerlich, da auf der einen Seite ratsuchende Menschen unverrichteter Dinge weitergeschickt werden müssen, auf der anderen Seite werden Termine für Patientinnen und Patienten blockiert, die eine fachärztliche Diagnostik und Behandlung dringend benötigt hätten. Der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, unterstützt auf dem diesjährigen deutschen Ärztetag im Gespräch mit Nina Warken die Einführung eines verbindlichen Primärarztsystems. „Dass sich jeder auf Kosten der Allgemeinheit aussucht, was ihm am besten passt, das ist weltweit einzigartig, aber nicht fair und definitiv nicht mehr länger leistbar und bezahlbar“.

Aus Sicht der Bundesärztekammer sollte die primärärztliche Versorgung perspektivisch zum Normalfall werden1. Auch die kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) bereitet sich auf die stärkere Patientensteuerung vor. Wie Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, berichtet, gab es auf der aktuellen KBV-Vertreterversammlung keine größeren Differenzen zwischen Haus- und Fachärztinnen und -ärzten1.

Gegenwind gibt es von der Deutschen Stiftung Patientenschutz, die verbreitet, dass zwei Drittel der Deutschen nicht daran glauben, dass sich die medizinische Versorgung verbessern wird (Stellungnahme von Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz). Bei Fokus online vom 1.6.2025 macht die Schlagzeile „Die neue Gesundheitsreform: dann gibt es keine freie Arztwahl mehr“ Furore. Das ist aber so nicht geplant, denn die Versicherten haben weiterhin die freie Hausarztwahl und auch die freie Wahl, was die Fachärztinnen und Fachärzte angeht. Allerdings wird hausärztlich zusammen mit den Patientinnen und Patienten entschieden, welche Facharztgruppe für die Behandlung der jeweiligen Erkrankung sinnvoll ist.

Die Co-Vorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Nicola Buhlinger-Göpfahrt, betont in verschiedenen Stellungnahmen, dass trotz des Ärztemangels die Hausärztinnen und Hausärzte mit mehr Patientinnen und Patienten zurechtkommen und zwar insbesondere dann, wenn sie chronisch erkrankt sind. „Wir können zeigen: Menschen mit Diabetes haben, wenn sie an einem Hausarztprogramm teilnehmen, weniger Amputationen, weniger Erblindungen, weniger Krankenhauseinweisungen“.

Zusammenfassend steht fest, dass selbst wenn die Behandlungskoordination durch ein Primärarztsystem aufgrund des Ärztemangels im hausärztlichen Bereich direkt noch nicht flächendeckend umsetzbar sein wird, das Ziel berufspolitisch richtig ist und langfristig zu einer verbesserten Versorgung und Zufriedenheit der Menschen in Deutschland führen wird, ganz besonders für Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus.

Ihre

Dr. med. Cornelia Jaursch-Hancke
Vorsitzende der Sektion Endokrinologie/Diabetologie

Erschienen in "Die Diabetologie" 5/2025

1 Deutsches Ärzteblatt/Jg122/Heft 11/ 30. Mai 2025/ B 500 André Haserück