Untätigkeit kann man Gesundheitsminister Lauterbach wahrlich nicht vorwerfen. Im Gegenteil: GVSG, KHVVG, Notfallreform oder Klinik-Atlas – ein Vorhaben jagt das nächste. Was aber bei all dem gänzlich fehlt, ist der Realitätsbezug. Das detaillierte Wissen darüber, wie Ärztinnen und Ärzte in Praxis und Klinik tagtäglich arbeiten, mit welchen Problemen wir wirklich konfrontiert sind und wo der Schuh am meisten drückt. Für all diese Unkenntnis ist der aktuelle Gesetzentwurf zur Reform der Notfallversorgung wieder mal ein sehr gutes Beispiel.
Aber fangen wir mal mit den guten Nachrichten an: Einige unserer Forderungen aus unserem Positionspapier von 2022 zur Patientensteuerung wurden im Gesetzentwurf aufgenommen, wie beispielsweise die Zuweisung von Patientinnen und Patienten aus den Integrierten Notfallzentren (INZ) in die vertragsärztliche Versorgung. Das reicht aber bei Weitem nicht aus. Eine effiziente Patientensteuerung muss viel konsequenter durchgesetzt werden. Auch das Leistungsversprechen an Patientinnen und Patienten muss realistisch sein – in personeller und finanzieller Hinsicht. Wir brauchen auch dringend ein Umdenken auf der Patientenseite.
Der BDI hat zudem eine verpflichtende telefonische oder digitale Ersteinschätzung gefordert. Der Entwurf ist an dieser Stelle leider viel zu zaghaft und entpuppt sich als oldschool. Auch das geht an der Realität komplett vorbei: Junge Menschen organisieren ihr Leben digital. Sogar 85 Prozent der 60- bis 69-Jährigen sind laut Studien täglich im Netz aktiv. Der zunehmende Ärzte- und Fachkräftemangel zwingt uns, digitale Tools und KI zu nutzen, und das so schnell wie möglich.
Ein weiterer Punkt der geplanten Notfallreform ist die Einrichtung einer Akutleitstelle und die Vernetzung der 112 und 116 117. Klingt gut, kann aber nur gelingen, wenn sie ausgebaut und zu einem echten Instrument der Daseinsfürsorge wird. Dieses müsste dann aber aus Steuergeldern finanziert werden.
Einer der größten Aufreger des Gesetzesentwurfs: Die Konkretisierung des Sicherstellungsauftrages ist in Wahrheit eine Leistungsausweitung – telemedizinische Betreuung und aufsuchender Dienst, 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche. Das ist in der aktuellen Situation völlig unrealistisch und unnötig, zumal durch das BSG-Urteil zur Sozialversicherungspflicht der Poolärztinnen und -ärzte in vielen Regionen der ärztliche Bereitschaftsdienst in den vergangenen Monaten massiv eingeschränkt werden musste. Lauterbach verspricht, Abhilfe zu verschaffen. Wir werden sehen. Die Versorgung muss auf jeden Fall flexibel an den regionalen Bedarf angepasst werden.
Auch das zweite Update des Klinik-Atlasses führt zu keiner Verbesserung, ganz im Gegenteil. Die erste Version war unübersichtlich und inhaltlich falsch, die aktuelle ist übersichtlich, aber nutzlos. Durch die massive Simplifizierung hat der Atlas keinerlei Aussagekraft mehr über die Versorgungsqualität der Kliniken für Patientinnen und Patienten. Er muss abgeschaltet und grundlegend überarbeitet werden.
Die Gesetzentwürfe zum Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz, zur Krankenhaus-Reform und zur Notfallversorgung durchlaufen aktuell das parlamentarische Verfahren und werden wegweisend für die Zukunft unserer Versorgung sein. Wir werden unsere internistische Versorgungskompetenz weiterhin in den Prozess einfließen lassen.
Ihre
Christine Neumann-Grutzeck
Präsidentin
Erschienen in BDIaktuell 7+8/2024