BDI: Frau Lilie, welche Rolle spielen nicht-selbstständige Kolleginnen und Kollegen für den Not- und Bereitschaftsdienst der KVen?
Susanne Lilie: Sie spielen eine große Rolle. Ohne die Unterstützung von Ärzten, die nicht niedergelassen sind – unsere sogenannten Poolärzte – ist der Bereitschaftsdienst, wie wir ihn heute erfolgreich haben, nicht umsetzbar.
Wie wurde das mit der Sozialversicherungspflicht der Poolärzte bisher gehandhabt?
Lilie: Das war bislang relativ einfach. Wir hatten uns vor Jahren bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) in einem sogenannten Statusfeststellungsverfahren bestätigen lassen, dass bei den Poolärzten keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt. Das bedeutet, dass wir den Poolärzten ihr Honorar auszahlen und wir sie nicht bei uns anstellen müssen.
Nun scheint es Anzeichen zu geben, dass die Deutsche Rentenversicherung ihre Haltung ändert. Was ist konkret passiert?
Lilie: Diese Konstellation, also Dienst in einer Notfallpraxis, die von der KV betrieben wird, gibt es ja nicht nur bei uns in Baden-Württemberg und nicht nur bei den Humanmedizinern, sondern auch bei den Zahnärzten. Es gab in der Zwischenzeit verschiedene Verfahren, in denen sich eine geänderte Haltung der DRV gezeigt hat, beispielsweise auch bei den Zahnärzten und in anderen KV-Bezirken. In diesen Verfahren hat die DRV dann auf einmal eine Sozialversicherungspflicht für Poolärzte festgestellt, in einem Verfahren sogar auch für einen Vertragsarzt.
Welche Auswirkungen könnte diese neue Lesart auf das KV-System haben?
Lilie: Ich würde nicht einmal so sehr von Auswirkungen auf das KV-System sprechen, vielmehr auf die Versorgung insgesamt – auf die Notfallversorgung der Patientinnen und Patienten und auch auf die Strukturen im ambulanten und stationären Bereich. Denn falls das Bundessozialgericht in dem Urteil, das wir erwarten, eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit feststellen würde, wäre das fatal.
Die Folge wäre, dass die KVBW und natürlich auch alle anderen KVen Tausende von Poolärzten und je nach Urteilsbegründung auch ihre eigenen Mitglieder für die Tätigkeit im Bereitschaftsdienst in zentralen Notfallpraxen, die von den KVen betrieben werden, anstellen müsste. Das wäre schlicht nicht zu leisten. Außerdem wären wesentlich mehr Ärzte für die Dienste erforderlich, da sie den Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen, Mutterschutz- und Elternzeitregelungen etc. unterliegen würden. Die KVBW müsste daher ggf. die meisten ihrer 120 an den Krankenhäusern zentral angesiedelten Notfallpraxen schließen, weil damit das Unternehmerrisiko und die selbstständige Tätigkeit des diensttuenden Arztes in den laufenden Verfahren von der DRV in Frage gestellt wird. Und sie müsste die Dienste wieder in die Praxen zurückverlegen.
... also organisatorisch ein Rückschritt?
Lilie: Ja. Denn das heißt, die Ärzte würden wieder dezentral in ihren eigenen Praxen Dienst tun. Das wäre auch für die Patienten und Patientinnen und im Übrigen auch für die Vermittlungsstrukturen der 116 117 fatal, weil jeden Tag eine andere Praxis Dienst hätte und dies entsprechend kommuniziert werden müsste. Von der zusätzlichen Belastung der Krankenhausambulanzen ganz zu schweigen. Damit wären sämtliche Fortschritte im Bereitschaftsdienst der vergangenen zehn Jahre und sämtliche Überlegungen zur Weiterentwicklung des Bereitschaftsdienstes auf Bundesebene hinfällig.
Der Blickwinkel muss aber noch weitergezogen werden. Die Verlegung des Bereitschaftsdienstes aus den Praxen heraus in zentrale Notfallpraxen an den Krankenhäusern erfolgte aus mehreren Gründen. So haben die Patienten und Patientinnen eine zentrale Anlaufstelle, außerdem werden die Ärzte entlastet. Notfallpraxen ermöglichen es, Poolärzte einzusetzen, damit werden auch die Notaufnahmen der Krankenhäuser entlastet. Darüber hinaus kann in den Notfallpraxen die Infrastruktur der Krankenhäuser (Röntgen, Labor etc.) mitgenutzt werden. Falls sich herausstellt, dass der Patient doch stationär behandelt werden muss, muss er nicht noch extra transportiert werden. Und die Dienstbelastung wird gleichmäßig zwischen Stadt und Land verteilt.
Das hätte also Auswirkungen auf die Niederlassungswilligkeit der nächsten Ärztegeneration?
Lilie: Ja. Aus verschiedenen Gründen wissen wir, dass die Dienstbelastung im Notfalldienst zu einem der zentralen Argumente für den Wunsch der – gerade jüngeren – Ärztinnen und Ärzte gehört, wo und ob sie sich überhaupt niederlassen. In der Vergangenheit waren die Städte hier bevorzugt, da es hier mehr Ärzte für die Dienste gab. Durch die Reform wurde das weitgehend ausgeglichen.
Also könnte ein BSG-Urteil direkte Folgen auf die Ärztedichte haben?
Lilie: Wir erwarten durchaus, dass (Haus-) Ärzte vorzeitig in den Ruhestand gehen würden oder junge niedergelassene Ärzte wieder in die Anstellung zurück ins Krankenhaus, da sie diese neue Belastung nicht akzeptieren würden und sich die Versorgungssituation daher noch mehr zuspitzen wird.
Aber worin liegt denn der Vorteil für die Deutsche Rentenversicherung bei diesem Vorstoß? Sind nicht ohnehin die meisten Kolleginnen und Kollegen Mitglied im ärztlichen Versorgungswerk?
Lilie: Ich glaube nicht, dass die DRV hiervon stark profitieren würde. So, wie Sie es sagen, würden sich die meisten sowieso von der Beitragspflicht befreien lassen, da sie bereits über ihre eigenen Versorgungswerke versichert sind.
Was muss Ihrer Meinung nach jetzt politisch geschehen?
Lilie: Der Gesetzgeber müsste festlegen, dass die Ärztinnen und Ärzte für die Tätigkeit speziell im ärztlichen Bereitschaftsdienst von der Sozialversicherungspflicht ausgenommen sind. Das gibt es heute bereits in anderen Bereichen etwa für die Notärzte. Der Gesetzgeber hatte das auch für die Tätigkeit in den staatlichen Test- und Impfzentren während der Pandemie so festgelegt. Entsprechende Gesetzesänderungsvorschläge haben wir schon vorgelegt. Bisher weigert sich das Bundesarbeitsministerium aber, eine solche Gesetzesänderung vorzunehmen. Wir aus dem KV-System können nur immer wieder darauf aufmerksam machen, dass es ansonsten zeitnah eine andere Versorgung im Bereitschaftsdienst geben wird, als wir sie heute kennen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Susanne Lilie ist Geschäftsführerin der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg.
Das Interview führte Dr. Kevin Schulte, erschienen in der BDI aktuell 06/2023