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| Gastbeitrag

Ohne die ambulante Versorgung geht es nicht

Der Protesttag der Praxen hat zweierlei gezeigt: Wie wichtig die ambulante Patientensteuerung für die Zentralen Notaufnahmen ist. Und dass Klinik- und Praxisärzte gemeinsam für eine gute Versorgung kämpfen sollten. Ein Erfahrungsbericht.

Am 2. Oktober 2023 hatte die KBV bundesweit zu einem Protesttag aufgerufen: Die Praxen sollten an diesem Tag schließen, als Zeichen gegen die Unterfinanzierung des ambulanten Systems. Wirklich der richtige Schachzug? Nicht das ambulante, sondern das gesamte Gesundheitssystem ist unterfinanziert, zumindest gemessen an den Leistungen, die wir alle erbringen sollen und die dem wissenschaftlichen Stand auch mitunter entsprechen.

Was passierte nun am Montag, dem 2. Oktober? Da es ein Brückentag war, hatten die ärztlichen Bereitschaftsdienstzentralen, kurz ÄBD, von Freitagnachmittag bis Mittwoch früh durchgehend geöffnet. Die Kommunikation dieser Situation lief wohl über die öffentlichen Medien, ob und wie sie mit den Krankenhäusern, also den Zentralen Notaufnahmen (ZNA) kommuniziert wurde, ist mir nicht bekannt. Es führte auf jeden Fall dazu, dass neben den via Rettungsdienst zugeführten Patientinnen und Patienten vermehrt weitere Patienten in unserer ZNA vorstellig wurden.

Zum einen, weil sie von dem Protesttag nichts wussten und daher in der ZNA Hilfe oder auch nur Information ersuchten: So konnten wir aufklären und an den ÄBD verweisen, welcher bei uns auf dem Gelände lokalisiert ist. Zum anderen haben uns vermehrt Patientinnen und Patientinnen aufgesucht, die in einer fachärztlichen Praxis vorstellig werden wollten. Diese waren ebenfalls geschlossen, auch hier wurde eine Weiterleitung zum ÄBD empfohlen, in dem Wissen, dass ein Teil mit einer Einweisung wieder zurückkommen würde.

Also was waren unsere Aufgaben an diesem Tag? Patientensteuerung, Gespräche führen, Aufklärung, Telefonate etc. Daneben lief das ganz normaler Notfallgeschäft einer ZNA beim Maximalversorger: Schockräume, notfällige Einweisungen wegen gastrointestinaler Blutungen, wegen Nierenversagen, wegen Sepsis, Aufnahme onkologischer Patienten mit Verschlechterung des Allgemeinzustandes, wegen Pneumonie und auch immer wieder Vorstellungen wegen COVID-Infektionen.

Deutlich mehr Patienten in der ZNA

Das Patientenaufkommen war an diesem Tag auf ca. 140 erhöht. In der Regel liegen wir um die 120 Patientinnen und Patienten an ruhigen Tagen, um 150 bis 160 an vollen Tagen. Der Protesttag war ein Montag, der Dienstag war ein Feiertag und am Mittwoch waren die Praxen bis mittags geöffnet. An dem Mittwoch nach dem Brückenund Feiertag wurden wir komplett überrannt: 156 Patienten, davon viele schwerer erkrankt, viele in Schockräumen – sowohl traumatologisch als auch konservativ.

Da kam es dann zwangsläufig zu langen Wartezeiten für die nicht lebensbedrohlich Erkrankten. Deren Unmut mussten wir aushalten und wir versuchten, sachlich und ruhig im Wartebereich zu deeskalieren. Da reicht ein Patient, der sich aufregt. Die hausärztlich zu versorgenden Patienten konnten wir zum ÄBD weiterleiten, bei den fachärztlichen Fragestellungen (HNO, Augenheilkunde etc.) kamen die Patienten mit Einweisung wieder zurück und mussten von der Spezialambulanz bzw. im Dienst von der Dienstkollegin (die für das gesamte Haus, also Station, Konsil und Notfälle zuständig war) behandelt werden. Mussten die Kolleginnen und Kollegen in den OP, hatten diese Patienten wieder mit langen Wartezeiten zu rechnen.

Es macht aus meiner Sicht wenig Sinn, einen Protesttag auf einen Brückentag zu legen, also in eine Woche, in der vielleicht die Praxen auch wegen Urlaub geschlossen haben, und die Arbeitslast auf die ÄBD und vor allem auch die ZNA abzuwälzen. Die lange Schließzeit der Praxen führt natürlich zu einer Verunsicherung der Patienten, die am Wochenende erkrankt sind. Sie wären vielleicht am Montag zu ihrer Hausärztin, ihrem Hausarzt gegangen, diese hätten sie beraten und Entwarnung gegeben, hätten vielleicht eine fachärztliche Konsultation empfohlen, und eine selbstständige Vorstellung in einer ZNA wäre gar nicht erfolgt. Die ambulante Versorgung und Steuerung ist für uns in der ZNA überlebenswichtig, denn wir können uns sonst vor fehlgeleiteten Patienten nicht retten und haben damit weniger Ressourcen für die tatsächlich schwer Erkrankten, für die Reanimationen, für die Polytraumata und die Schlaganfälle.

Der Protest ist richtig und wichtig. Aber ein Protest einer einzelnen Gruppe im Gesundheitssystem verpufft in der Öffentlichkeit komplett. Einzig, wenn wir zusammen Proteste organisieren, auf die Straße gehen, als Ärztinnen und Ärzte mit einer Stimme sprechen, werden wir – vielleicht – gehört werden. Auf der KBV-Tagung am 12. und 13. Oktober 2023 zum Thema Notfallreform habe ich leider nicht den Eindruck einer gemeinsamen Strategie gewinnen können. Die Sektorengrenze ist nach wie vor eine mentale Grenze im Versuch, durch die immer knapper werdenden ärztlichen Ressourcen die Versorgung aller Patienten zu erhalten. Schlimmer noch: Die ärztliche Profession, die neben wissenschaftlichem Denken auch Empathie und Verantwortungsbewusstsein erfordert, in welcher Trösten, Sterbebegleitung, Gespräche mit Angehörigen, Verständnis für Sorgen und Probleme Raum haben müssen, scheint auf dem Weg der Reformen komplett unterzugehen.

Ein Beitrag von Dr. Christina Hidas, Stellvertretende Vorsitzende des Landesverbands Hessen, Fachärztin für Innere Medizin SP Nephrologie und Notfallmedizin in Darmstadt, erschienen in der BDI aktuell 11/2023