StartseitePresseKontakt

| Interview

„Es liegt an uns Ärzteschaft, die richtigen Impulse zu geben“

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) haben das Potenzial, die Versorgung zu verbessern, meint Dr. med. Filippo Martino. Im Interview erläutert der 1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Digitale Medizin (DGDM), wie es um die Evidenzlage der digitalen Anwendungen steht.

Dr. med. Filippo Martino / © Privat

BDI: Herr Dr. Martino, nun sind mittlerweile 30 verschiedene digitale Gesundheitsanwendungen im Verzeichnis des BfArM gelistet. Wenn man sich die Verschreibungszahlen anschaut, kann man sich fragen, ob DiGA wirklich ein Erfolgsmodell geworden sind. Wie sehen Sie das?

Dr. Filippo Martino: Sagen wir mal so: Da ist sicherlich noch Luft nach oben, um es als Erfolgsmodell zu bezeichnen, aber es zeigt, dass es definitiv Bedarf gibt. Wenn man sich Befragungen anschaut, in denen Ärztinnen und Ärzte gefragt werden, wie sie zu DiGA stehen, wird häufig genannt, dass sie zu wenig informiert sind und weiterhin die Evidenzlage als unklar oder kritisch werten. Es gibt daher durchaus Ansatzpunkte, um das Thema weiterzuentwickeln.

Wie bewerten Sie denn die Evidenz von DiGA?

Das ist eine Frage, die man differenziert betrachten muss, denn es gibt nicht die eine Evidenz der digitalen Gesundheitsanwendungen. Die jeweilige Studienlage unterscheidet sich zwischen einzelnen Anwendungen und ist auch vom Zulassungsstatus abhängig. Insgesamt ist jedoch zu sagen, dass es durchaus DiGA mit solider und guter Studienlage gibt. Ich kann nur empfehlen, einen Blick in das DiGA-Verzeichnis des BfArM zu werfen und sich mit der Studienlage auseinanderzusetzen, sowie gegebenenfalls auch die Testmöglichkeiten der Hersteller zu nutzen, um sich ein umfassendes Bild der jeweiligen Anwendung machen zu können.

Werden wir konkret: Inwiefern gibt es nicht die eine Evidenz? Das BfArM macht hierfür doch konkrete Vorgaben, oder sehen Sie hier einen Unterschied bei den Herstellern, dass es sich einige leichter machen als andere?

Im Gegensatz zu gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben, die als Mindestniveau eine retrospektive vergleichende Studie mit möglichem intraindividuellem Vergleich vorgeben, zeigt die Realität, dass der Großteil der Hersteller der gelisteten DiGA randomisiert kontrollierte Studien (RCT) vorlegt oder gerade durchführt, wenn sie in Erprobung sind. Eine RCT vorzulegen, bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Studie von guter Evidenzqualität ist. Es schafft nur Bedingungen für ein gutes Evidenzniveau. Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie tief hier reguliert werden kann, denn wir haben es mit einem sehr diversen Indikationsfeld und Funktionsweisen der DiGA zu tun.

Auch ist anzumerken, dass DiGA die Wissenschaft durchaus vor Herausforderungen stellen, denen zuweilen nur bedingt mit „klassischen“ Studiendesigns begegnet werden kann. Es bleibt daher nur der vergleichende Blick auf die individuelle DiGA bzw. die jeweilige Indikationsgruppe.

Wo sehen Sie denn genau die speziellen Herausforderungen in der Evaluation von DiGA?

DiGA unterscheiden sich signifikant von analogen Medizinprodukten oder Arzneimitteln in ihren Eigenschaften sowie auch Wirkungen. Zunächst haben digitale Produkte häufig eine viel kürzere Weiterentwicklungszeit und können sich viel schneller an Anforderungen und Situationen adaptieren. Diese große Stärke ist gleichzeitig aber auch eine Herausforderung, denn schlimmstenfalls überholen die Weiterentwicklungen die Studien und machen ihre Ergebnisse bedingt übertragbar oder sogar obsolet.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die indirektere, aber dafür häufig „breitere“, Wirkweise von digitalen Anwendungen. Im Gegensatz zu Medizinprodukten und Arzneimitteln wirken diese nicht direkt chemisch oder physikalisch auf die Physiologie, sondern beeinflussen meist das Verhalten der Patientinnen und Patienten. Dies macht den Nachweis direkter Effekte auf „harte“ Endpunkte komplexer.

Abschließend ist zu sagen, dass DiGA häufig vielfältige Wirkungen auf anderen Ebenen als der rein medizinischen haben. So können sie beispielsweise die Hürden zur Gesundheitsversorgung senken oder die Gesundheitskompetenz stärken. Auch das hat ja einen positiven Einfluss auf die Versorgung und damit einen Wert. Dies wissenschaftlich sauber herauszuarbeiten und miteinander in Bezug zu setzen ist definitiv herausfordernd. In Zukunft werden DiGA sicherlich auch im Rahmen von Fachempfehlung und Leitlinien näher betrachtet werden.

Was wäre Ihre Idealvorstellung, wie mit DiGA in Leitlinien verfahren werden sollte?

Ich glaube, dass es wichtig ist, sich zunächst fachgruppenübergreifend und multiprofessionell mit dem Thema auseinanderzusetzen, um gemeinsam Erwartungen zu formulieren bzw. Anforderungen zu definieren. Dieser konzertierte Rahmen kann dann dazu dienen, sich in den einzelnen Fachgremien die jeweils relevanten Anwendungen und ihre Evidenzlage genauer anzuschauen und indikationsspezifische Empfehlungen zu entwickeln. Diese können sich dann in bestehende Leitlinien als neue Therapiemodalität eingliedern oder bei größeren und komplexeren Aspekten in eine eigene Leitlinie einfließen, wie es z.B. schon für die S2k-Leitlinie „Teledermatologie“ geschehen ist. Wichtig ist es, den Fachgruppen praktikable Empfehlungen zu geben und die digitalen Anwendungen auch konkret in bestehenden Therapieregimen einzuordnen.

Wie schätzen Sie die Zukunft der DiGA ein?

Ich glaube, dass DiGA das Potenzial haben in Zukunft unsere Versorgung nachhaltig zu verbessern. Es liegt jetzt ein stückweit an uns als Ärzteschaft, in den Diskurs mit einzusteigen und die richtigen Impulse zu geben.

Vielen Dank für das Gespräch

Das Interview führte Dr. med. Cornelius Weiß, Sprecher der außerordentlichen Mitglieder des BDI.

Erschienen in BDIaktuell 04/2022.