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| Interview

„Es herrscht Endzeitstimmung“

Die Praxen stehen vor dem Kollaps und die Politik ignoriert weiterhin die Sorgen und Nöte der ambulanten Versorgung. Vor der KBV-Krisensitzung der deutschen Vertragsärzte- und Psychotherapeutenschaft am 18. August 2023 in Berlin bekräftigt BDI-Präsidentin Christine Neumann-Grutzeck im Interview mit dem Ärztenachrichtendienst (änd), was sich jetzt ändern muss.

Bild: BDI/Phil Dera

änd: Wie würde der BDI die aktuelle Stimmung unter den Vertragsärztinnen und -ärzten beschreiben?

Neumann-Grutzeck: Die Stimmung schwankt zwischen Enttäuschung und Zorn. Die Vertragsärztinnen und -ärzte fühlen sich von der Politik übergangen, nicht wertgeschätzt und nicht wahrgenommen. Gegenüber der ambulanten Versorgung herrscht eine so massive Ignoranz, dass die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen das Gefühl haben, die letzte Generation der ambulanten Ärzteschaft zu sein. Es herrscht Endzeitstimmung.

Was sind die drei größten Probleme in der ambulanten Versorgung?

Neumann-Grutzeck: Erstens, der Fachkräftemangel. Das betrifft sowohl den Mangel an Medizinischen Fachangestellten (MFA) und Praxispersonal als auch den ärztlichen Bereich. Für viele Kollegen wird es immer schwieriger, Nachfolgerinnen und Nachfolger für die Praxen zu finden.

Zweitens, der Investitionsstau und die Kostensteigerungen, die nicht refinanziert werden. Personalkosten, Dienstleistungen und Energie- und Materialkosten sind in den letzten Jahren im zweistelligen Bereich gestiegen. Dafür benötigt es einen Ausgleich. Die Vertragsärzte bekommen aber nur einen Bruchteil refinanziert – und das mit erheblicher Verzögerung. Unter diesen Bedingungen haben die Praxen einen eklatanten Nachteil im Wettbewerb mit den Kliniken um qualifiziertes Personal. Und für die jungen Kolleginnen und Kollegen nimmt die Attraktivität der Niederlassung ab. Das ist ein entscheidender Punkt, den die Politik kontinuierlich übersieht. Die Situation ist mit der von 10 oder 20 Jahren längst nicht mehr vergleichbar. Wir kämpfen deshalb nicht nur für die Kollegen, die in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen, sondern insbesondere für die nächste Generation, die unsere Versorgung auch mittel- und langfristig sicherstellen soll.

Drittens, die fehlende Steuerung im Gesundheitswesen. Im Zusammenspiel mit der demografischen Entwicklung und den ersten beiden Punkten ergibt sich daraus eine Überlastung unserer Strukturen, die in dieser Form nicht mehr lange funktionieren wird. Wenn wir das hohe Qualitätsniveau in der Versorgung erhalten wollen, müssen wir effektive Mittel finden, um die Gesundheitsbildung der Menschen zu erhöhen und sie bedarfsgerecht durch das System zu lotsen.

Welche Erwartungen haben Sie an das Krisentreffen?

Neumann-Grutzeck: Wir erwarten in erster Linie Einigkeit und ein eindeutiges Signal, dass die Vertragsärztinnen und -ärzte die Geduld verloren haben. Es reicht jetzt! Es geht darum, dass wir geschlossen aus unserem Dornröschenschlaf aufwachen und eine Botschaft senden, die die Politik wahrnimmt.

Was sind Ihre drei Hauptforderungen an die Politik?

Neumann-Grutzeck: Erstens: Keine Gesundheitspolitik ohne die Einbindung der Ärztinnen und Ärzte. Gute Politik entscheidet mit und nicht über die Menschen. Gute Reformen werden mit denjenigen gemacht, die sie in der Praxis auch umsetzen müssen – sei es bei der Krankenhausreform, der Notfallversorgung oder der intersektoralen Versorgung. Das hilft auch, den ein oder anderen handwerklichen Fehler zu vermeiden.

Zweitens: Eine adäquate Finanzierung der ambulanten Strukturen. Dazu gehören die angemessene Steigerung des Orientierungswertes, die Entbudgetierung der Haus- und Fachärzte und eine nachhaltige Finanzierung der Weiterbildung im ambulanten Bereich

Drittens: Ein klares Bekenntnis zur vertragsärztlichen Versorgung.

Welches Signal sollte von der Sitzung ausgehen?

Neumann-Grutzeck: Wir stehen gemeinsam: Für eine gute Patientenversorgung, aber auch für den Auftakt von weiteren und umfassendere Protestmaßnahmen, die für die Versorgung spürbar sind, wenn die Vertragsärztinnen und -ärzte weiter so missachtet werden.