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| Meinung

Die ambulante Medizin ist am Kipp-Punkt

Fehlende Patientensteuerung, enge Budgets, eine veraltete GOÄ und überbordende Bürokratie: Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind es leid, vom Gesundheitsminister vertröstet zu werden.

Im Jahr 2006 erlebte die Bundesrepublik Deutschland den letzten großen Ärzteprotest. Schon damals ließ sich unser heutiger Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu scharfer Kritik gegenüber niedergelassenen Ärzten hinreißen. Er sagte damals: „Ich finde das traurig. Die Ärzte, die bei der Qualität im europäischen Vergleich nur durchschnittliche Ergebnisse vorweisen können, streiken nur, wenn es um ihr eigenes Einkommen geht“. Die Zeitung „Die Zeit“ beschrieb Lauterbach damals als Gesundheitsfachmann und Berater der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Ulla Schmidt in Führungsposition ist Gott sei Dank schon lange Geschichte. Karl Lauterbach ist geblieben.

Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte Deutschlands sind heute wie damals mit Budgetierung, einer seit Jahren nicht angepassten GOÄ, fehlender Patientensteuerung und überbordenden Bürokratie konfrontiert. Weitere Herausforderungen neben den Dauerproblemen des deutschen Gesundheitssystems im Jahre 2023 sind zudem eine amateurhafte Digitalisierung, der Fachkräftemangel und massive Kostensteigerungen durch Inflation und Energie.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat deswegen zum Protest aufgerufen. Auf ihrer Sondersitzung am 18. August in Berlin forderte die Vertreterversammlung der KBV die Politik auf: #PRAXENKOLLAPS VERHINDERN!

700 Kolleginnen und Kollegen aus allen Bundesländern brachten gemeinsam einen Forderungskatalog an Gesundheitsminister Karl Lauterbach auf den Weg. Unter dem Motto „Praxis in Not“ haben der Virchowbund zusammen mit dem Spitzenverband Fachärzte Deutschlands (SpiFa) und unter anderem unserem Berufsverband Deutscher Internistinnen und Internisten (BDI) am 2. Oktober einen Prostest-Tag durchgeführt. Es gab bundesweit Praxisschließungen und regionale Aktionen. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser waren infolgedessen am 2. und 3. Oktober überlastet.

Und Karl Lauterbach? Der hat heute wie damals wenig Verständnis für die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte. Er schrieb auf der Internet-Plattform X (ehemals Twitter): „Am Brückentag schließen viele Praxen, wie die Apotheker wollen auch sie mehr Geld. Im Mittel (Median) verdienen sie aber nach Abzug aller Kosten um die 230.000 Euro pro Jahr.“ Anschließend räumte er jedoch ebenfalls auf X ein, dass die Arbeitsbedingungen für Ärzte „durch weniger Bürokratie“ verbessert werden müssten. „Auch Hausärzte, die eher schlechter verdienen und von denen wir zu wenige haben, müssen aus dem Budget. Aber im Schnitt scheint das Einkommen, was nach KBV-Abschluss jetzt weiter steigt, ok zu sein.“

Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) stellt noch im September 2023 fest: „55 Prozent der Niedergelassenen schätzen ihre berufliche Situation als schlecht beziehungsweise sehr schlecht ein. 2019 waren es lediglich 30 Prozent.“

Ich meine: Das deutsche Kassensystem befindet sich am Kipp-Punkt! Die Proteste am 18. August und 2. Oktober dürfen nur der Anfang gewesen sein. Im Zusammenspiel mit den Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus müssen wir Ärztinnen und Ärzte aus der Praxis weiter laut und deutlich auf die Missstände hinweisen.

Es beweist sich vor allem in schwierigen Zeiten, dass sektorenübergreifende Berufsverbände wie unser BDI dringend gebraucht werden.

Ein Beitrag von Dr. med. Constantin Janzen, Mitglied im Landesvorstand Niedersachsen und Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie in Hildesheim, erschienen in der BDI aktuell 11/2023