BDI aktuell 01_2016 - page 16

Verbrennen Pharmazie­Studenten
ihre Laborkittel, tun sie dies auf ei­
genes Risiko. Auch wenn sie damit
einer studentischen Tradition nach­
kommen, greift der Schutz der ge­
setzlichen Unfallversicherung nicht,
wie das Thüringische Landessozial­
gericht (LSG) entschied.
Konkret ging es um Pharmazie­
Studenten der Friedrich­Schiller­
Universität Jena. Ihre Freude über
den Abschluss ihres Praktikums im
6. Semester brachten sie mit einer
studentischen Tradition zum Aus­
druck:
Sie verbrannten ihre
Laborkittel. Dabei kam es zu einer
Verpuffung. 13 Studenten, darunter
die Klägerin, wurden teils schwer
verletzt. Die Klägerin wollte den
Unfall als Arbeitsunfall anerkannt
haben. Die Unfallkasse lehnte dies
jedoch ab. Zu Recht, so das LSG.
Zwar seien Studenten gesetzlich un­
fallversichert. Die unfallbringende
Verrichtung müsse aber im organi­
satorischen Verantwortungsbereich
der Uni liegen.
(mwo)
Kasse zahlt
nicht, wenn der
Kittel brennt
AUCH DAS NOCH
TOMICEK’S WELT
Weihnachten
á la Gröhe
„Erinnern ist das wahre Vergessen.“
Mit diesem Satz irritiert der Bochu­
mer Biopsychologe Professor Onur
Güntürkün all jene, die bisher glaub­
ten, auf die Bilder aus dem Gedächtnis
sei Verlass. Und nicht nur das: „Unse­
re Erinnerungen sind in größter Ge­
fahr, wenn wir uns an sie erinnern“,
warnt der 57­Jährige. „Dann werden
sie sehr fragil und können zerstört
oder modifiziert werden.“ Viele Expe­
rimente belegten dies. Und hat die Er­
kenntnis einen praktischen Wert? Und
ob, meint der Wissenschaftler. „Ei­
gentlich müssten Juristen das studie­
ren.“ Denen sei der schmale Grat zwi­
schen Erinnern, Vergessen und Mani­
pulation selten bewusst.
„Erinnern, vergessen – Strategien
oder Zufälle?“ Die nordrhein­westfäli­
sche Akademie der Wissenschaften
und Künste hatte das anspruchsvolle
Thema kürzlich in Düsseldorf auf der
Tagesordnung eines interdisziplinären
Forums. Für Güntürkün keine Wis­
senschaft aus dem Elfenbeinturm,
sondern eine Frage von geradezu dra­
matischer Relevanz.
„Katastrophale Folgen“
Wer die Funktionsmechanismen des
Gedächtnisses nicht verstehe und
nicht wisse, wie „Erinnerungen im­
plantiert“ werden, könne schlimmen
Irrtümern erliegen, erläuterte er. Vor
allem vor Gericht. „Das kann zwei ka­
tastrophale Folgen haben“, stellt der
mehrfach ausgezeichnete Forscher der
Ruhr­Universität Bochum fest. „Es
kann sein, dass ein Unschuldiger in
den Knast geht oder dass ein Schuldi­
ger nicht in den Knast geht.“ Manch­
mal hänge es an einem einzigen Wort.
Je nachdem, ob gefragt werde, ob ein
Auto in ein anderes „gekracht“ sei
oder ob es „auffuhr“, berichteten Zeu­
gen von unterschiedlichen Geschwin­
digkeiten. Je nach Intensität des Verbs,
das der Fragende benutze, erinnere
sich der Zeuge an Glassplitter oder
auch nicht.
Erinnerung auf der Rückbank
Güntürkün hat weitere Experimente
auf Lager: Jemand, den wir von früher
kennen, erzählt von einem gemeinsa­
men Erlebnis. Ein Detail hat zwar
Plausibilität, stimmt aber so nicht. Bei­
spiel: die erste Käfer­Fahrt, die gefähr­
liche Kurve, die Angst, Manuela auf
der Rückbank.
„Manuela war aber nicht auf der
Rückbank“, beschreibt der Professor
den Versuch. Häufige erste Reaktion:
„Wir lehnen ab, wir grübeln. Wochen
später ,erinnern‘ wir uns: Manuela saß
auf der Rückbank.“ Im Interesse der
Wissenschaft verkündet Güntürkün
seinen Mitmenschen eine schonungs­
lose Botschaft: „Ein Teil ihres Lebens
ist von ihnen selbst erfunden.“
Erinnerungen seien eben keines­
wegs wie abgespeicherte Dokumente
auf einer Festplatte. „Sie sind immer
nur ein interpretierter Ausschnitt.“
Dass das Gehirn Modifikationen zu­
lassen müsse, liege in der Natur des
Menschen und aller Tiere. „Sonst
könnte man keine neue Kaffeemaschi­
ne bedienen, sondern würde immer
wieder bei Null anfangen.“
Fotografisches Nachbild narrt uns
Doch das vermeintlich fotografische
Nachbild narrt uns. So kommt es zu
einem bekannten Phänomen: „In un­
serer Erinnerung waren wir als Kinder
schlauer, erfolgreicher und haben von
vornherein gewusst, was später schief­
gehen würde.“ Tatsächlich passiere
Folgendes, erklärt der Biopsychologe:
„Im Gehirn kriecht unser später er­
worbenes Wissen um die Niederlage in
unseren Erinnerungsprozess und ver­
ändert ihn.“
Für Zeugenaussagen sei das von
größter Bedeutung. „Juristen sind sich
ihrer Rationalität viel zu sicher. Die
natürliche Irrationalität des Menschen
ist ihnen nicht bewusst. Daraus entste­
hen viele Probleme.“
Jürgen Widder, Vorsitzender des
nordrhein­westfälischen Anwaltsver­
eins, kann das nachvollziehen. „Das
schwächste Beweismittel ist der Zeu­
ge“, räumt er ein. „Im Gerichtsalltag
geht das manchmal ein bisschen verlo­
ren.“ Andererseits könne dort auch
nicht alles infrage gestellt werden.
„Dann käme es zu keiner Entschei­
dung mehr.“
Das ohnehin vollgepackte Jura­Stu­
dium mit weiteren Pflicht­Bausteinen
zu belegen – etwa zur Taktik von Zeu­
genaussagen und Psychologie der
Sprache – sei schwierig. Aber das An­
gebot sollte zumindest gemacht wer­
den. „Auch schon an der Universität
und als Fortbildung sowieso“, unter­
streicht der Anwalt. Als Lehrbeauf­
tragter der Ruhr­Universität beschäf­
tigt sich der Jurist selbst mit solchen
Schlüsselqualifikationen. „Wir sollten
uns mehr in Selbstkritik und Selbstre­
flexion üben.“
(dpa)
„Erinnerungen sind in größter Gefahr“
Liegen unsere Erinnerungen
in unserem Gehirn wirklich
sicher auf einer „Festplat­
te“? Keineswegs, stellt der
Bochumer Psychologie
Professor Onur Güntürkün
fest. Erinnerungen werden
von allerlei Faktoren
beeinflusst und sind alles
andere als zuverlässig.
Ständig in Arbeit: Das Gehirn lässt auch bei Erinnerungen Modifikationen zu.
© GSTUDIO GROUP / FOTOLIA.COM
© MARION NELLE / DPA / PICTURE ALLIANCE
Erinnerungen
sind nicht wie
abgespeicherte
Dokumente
auf einer Festplatte.
Ein Teil ihres
Lebens ist von
den Menschen
selbst erfunden.
Professor Onur Güntürkün
ist Biopsychologe und lehrt an der
Ruhr­Universität in Bochum
Von Bettina Grönewald
16
Januar 2016
BDI aktuell
Panorama
ZITIERT
Die Mär vom
Hausarzt­Facharzt­
konflikt kann
doch keiner
mehr hören.
Dr. Andreas Gassen
Vorstandsvorsitzender der KBV bei
der öffentlichen Vertreterversammlung
am 4. Dezember 2015 in Berlin
1...,6,7,8,9,10,11,12,13,14,15 17,18,19,20,21,22,23,24
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