Berufspolitik
Nr. 8/9 • August 2012
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Die Gutachter setzen sich im Weiteren
mit der OECD-Bewertung auseinander
und halten sie für völlig unzureichend.
Es wird vor allem Kritik daran geübt,
dass man die Ausgaben allein als
Gesamtgröße vom Bruttosozialpro-
dukt bewertet. Bei differenzierter
Bewertung der Gesundheitskosten
kommt man zu einer Quote, nach der
Deutschland auf Rang 10 der Indus-
trienationen angesiedelt ist. Dies
hängt unter anderem auch mit dem
vergleichsweise niedrigen Bruttosozi-
alprodukt pro Kopf in Deutschland
zusammen. Berechnet man die Ausga-
ben kaufkraftbereinigt, fällt Deutsch-
land auf den 13. Platz zurück. Zudem
liegt Deutschland mit seinen Ausga-
ben im Vergleich zu Norwegen, Hol-
land und Dänemark deutlich niedriger
und hat im Vergleich zu diesen Län-
dern höhere Wachstumsraten in der
Lebenserwartung.
Aber auch diese Messgröße wird kri-
tisch bewertet. So kommt man zu dem
Schluss, dass Veränderungen der
Lebenserwartung nicht allein eine
Folge medizinischer Versorgung sind,
sondern auch durch Bildung, Wohn-
qualität und Lebensstil beeinflusst
werden. Kritisiert wird zudem, dass
die OECD die Lebensqualität, die
schwer messbar ist, in ihren Überle-
gungen überhaupt nicht berücksich-
tigt. Sie ist aus der Sicht der Sachver-
ständigen aber ein wesentliches Ziel
jeder Gesundheitsversorgung.
Deutsches Gesundheitssystem
verbesserungswürdig
Dennoch kommen die Gutachter am
Schluss zu der Auffassung, dass vieles
im deutschen Gesundheitswesen ver-
besserungswürdig ist und dass die im
früheren Gutachten angesprochene
Über-, Unter- und Fehlversorgung, ins-
besondere an den Schnittstellen, wei-
ter besteht. Diese schlecht definierten
Begriffe ziehen sich seit Jahren durch
sämtliche Sachverständigengutachten.
Im Weiteren setzt sich das Gutachten
mit den Möglichkeiten des Wettbe-
werbs im Gesundheitswesen ausei-
nander und stellt dabei fest, dass der
Wettbewerb nach Markt und Preisge-
staltung durch eine öffentliche Pla-
nung und Kooperationsstrukturen
stark behindert wird. Besonders im
Krankenhausbereich dominiert die
öffentliche Planung. Dies gilt im Prin-
zip auch für den ambulanten Bereich,
auch wenn es mehr Kooperationsmög-
lichkeiten gibt. Bei Arzneimitteln und
bei Medizinprodukten findet demge-
genüber noch eine gewisse Marktre-
gulierung durch Preis und Angebot
statt.
Die Gutachter betonen, dass der Wett-
bewerb im Gesundheitswesen aber
kein Selbstzweck sein kann, sondern
dass auch Gesundheitsziele definiert
werden müssen. Hier wird auf die ver-
schiedenen Gesichtspunkte, begonnen
von der Lebensqualität bis zur Lebens-
verlängerung über die wirtschaftliche
Bedeutung des Gesundheitswesens
durch Anteile am Bruttosozialprodukt
und Schaffung von Arbeitsplätzen,
eingegangen. Auch die Bedeutung der
Wirtschaftlichkeit der Behandlung mit
einer vermehrten Patientenautonomie
und der Solidarität im Gesundheits-
wesen wird erwähnt. Es müsse auch
verhindert werden, dass monopolisti-
sche Strukturen im Krankenkassen-
oder Leistungsbereich ihre Macht
missbrauchen. Betrachtet man die
Bewertung der Gutachter, so kommt
man zu dem Entschluss, dass allein
der Markt wohl nicht ausreicht, um
ein effizientes Gesundheitswesen mit
solidarischer Komponente und mit
vernünftigen Gesundheitszielen zu
organisieren.
Vier Wettbewerbsfelder
Im Weiteren gehen die Gutachter auf
die vorhandenen Wettbewerbsfelder
in unserem gesamten Gesundheitswe-
sen – auch über die gesetzliche Kran-
kenversicherung hinaus – ein. Das
erste Wettbewerbsfeld wird durch
Angebot und Nachfrage im privaten
Gesundheitsmarkt geregelt. Hier
bestimmt die Nachfrage des Patienten
und das Angebot der Leistungserbrin-
ger weitgehend die Versorgung; es
gibt keine Regelungen, wie sie in der
gesetzlichen Krankenversicherung
verankert sind. Das zweite Wettbe-
werbsfeld ist die Versorgung der
gesetzlichen Krankenversicherung; ein
Wettbewerb zwischen den Kranken-
kassen fehlt, da sie einen einheitlichen
Leistungskatalog gegenüber den Leis-
tungserbringern anbieten. Wettbe-
werb in mehr oder weniger ausge-
prägter Form gibt es nur zwischen den
Leistungserbringern und hier in der
Regel nur über das Feld der Qualität.
Die Sachverständigen vermissen, dass
Wettbewerbsmöglichkeiten, insbeson-
dere an der Grenze ambulant und sta-
tionär, nicht genutzt werden. Das drit-
te Wettbewerbsfeld betrifft die Akqui-
se von Versicherten durch die Kran-
kenkassen. Insbesondere durch den
festgeschriebenen Leistungskatalog
sind die Möglichkeiten stark begrenzt.
Zusatzleistungen stehen nur einge-
schränkt zur Verfügung. Nur wenn die
Krankenkassen auch auf den privaten
Markt ausweichen könnten, wäre ein
Wettbewerb über Leistungen um den
Patienten möglich. Besondere Beach-
tung findet das vierte Wettbewerbs-
feld. Hier geht es um die selektivver-
traglichen Regelungen, die den Kran-
kenkassen durchaus Möglichkeiten
eröffnen, unterschiedliche Verträge
über Qualität, Preis und Leistung
abzuschließen.
Personalengpässe und Personal-
mangel
Einen breiten Raum in dem Sachver-
ständigengutachten nimmt die rechtli-
che Frage des Vergaberechtes und des
Kartellrechtes ein. Hier wird unter
anderem auch auf das europäische
Recht eingegangen. Das Gutachten
beschreibt die personelle Entwicklung
im Gesundheitswesen und verweist
dabei auf die Bedeutung des Gesund-
heitswesens bezüglich des Arbeits-
marktes. Die Neupositionierung der
Pflegekräfte durch eine zunehmende
Akademisierung wird genauso artiku-
liert wie die Änderung des Arbeitsvo-
lumens bei den einzelnen Vertragsärz-
ten und Krankenhausärzten, die zu
einem relativen Arztmangel führen
müssen. Insgesamt kommt das Gut-
achten zu folgenden Aussagen:
▶ Bis zum Jahr 2020 und in verschärf-
ter Form bis zum Jahr 2030 wird die
derzeit schon in einigen Versor-
gungsbereichen feststellbare Perso-
nalknappheit zunehmen, sowohl in
ambulanten als auch in stationären
Einrichtungen.
▶ Der relative Personalmangel dürfte
ab dem Jahr 2020 bei den niederge-
lassenen Ärzten stärker als in statio-
nären Einrichtungen ausgeprägt
sein.
▶ In stationären Einrichtungen wer-
den mögliche Personalengpässe frü-
her, aber mittelfristig weniger stark
eintreten.
▶ Mit Blick auf die intersektoralen
Wettbewerbe könnte jedoch auch
eine Verschiebung der erwarteten
Unterausstattung relevant sein,
etwa wenn die steigende Nachfrage
nach Teilzeitbeschäftigung berück-
sichtigt wird, die sich im ambulan-
ten Bereich voraussichtlich besser
realisieren lässt.
Soweit die Prognosen bezüglich der
Personalsituation im Gesundheitswe-
sen, die für die Beurteilung der Grenze
ambulant und stationär von besonde-
rer Bedeutung ist.
Nutzerkompetenz soll Wett-
bewerbssituation verbessern
Nach Meinung des Sachverständigen-
rates soll auch die sogenannte Nutzer-
kompetenz eine Verbesserung der
Wettbewerbssituation herbeiführen.
Darunter versteht man eine genauere
und bessere Information von Patien-
ten über Krankheiten und Behand-
lungsmöglichkeiten. Die Eigenkompe-
tenz soll durch entsprechende Trans-
parenz des medizinischen Geschehens
und der Erkrankung gefördert werden.
Man sieht hier in den letzten Jahren
erhebliche Fortschritte, ist aber der
Meinung, dass je nach sozialem Status
noch einiges verbessert werden kann.
Wie zurzeit in unserer Gesellschaft
üblich, setzt der Sachverständigenrat
den Patienten zunehmend mit einem
Kundenstatus gleich. Die emotionale
Reaktion auf Krankheit wird dabei
überhaupt nicht berücksichtigt.
Besseres Schnittstellenmanage-
ment gefordert
Nach diesen Vorbemerkungen
beschäftigt man sich speziell mit dem
Schnittstellenmanagement im deut-
schen Gesundheitswesen und hier ins-
besondere mit der akut stationären
und der ambulanten Versorgung. Die
Information zwischen den verschiede-
nen Versorgungsebenen ist von beson-
ders großer Bedeutung, da immer
mehr Patienten mit schwerwiegenden
gesundheitlichen Problemen und folg-
lich auch mit einem höheren Weiter-
versorgungsbedarf die Krankenhäuser
verlassen. Die Sachverständigen for-
dern deshalb eine Intensivierung der
Information zwischen den Versor-
gungsebenen z. B. durch IT-Technik,
vermehrte Transparenz, insbesondere
bei der Arzneimittelverordnung sowie
eine geordnete Übergabe von Diagno-
se und Therapie. Die letzten gesetzli-
chen Regelungen zum Entlassmanage-
ment werden begrüßt.
Die Sachverständigen legen an der
Grenze ambulant und stationär unter
dem Motto „Wettbewerb“ großen
Wert auf die Qualität. Dabei wird dif-
ferenziert zwischen der technischen
Qualität der Behandlung, der Qualität
der persönlichen Beziehung zum
medizinischen und pflegerischen Per-
sonal sowie der Umgebungsqualität, in
der die Behandlung stattfindet. Insge-
samt werden eine Reihe von methodi-
schen Hinweisen gegeben, wie eine
Qualitätssicherung den Wettbewerb
fördern kann. Dabei fehlt es aber nicht
an kritischen Bemerkungen bezüglich
der Fallzahlproblematik, der Leitlini-
enorientierung mit ihren Grenzen
sowie der Risikoselektion, die die
Ergebnisse durchaus verfälschen kann.
Es werden ergebnisbezogene Indikato-
ren über die Grenze ambulant und
stationär hinaus gefordert, damit es zu
einem vernünftigen Benchmark kom-
men kann.
Bei den Wettbewerbsbedingungen an
der Sektorengrenze zwischen ambu-
lant und stationär werden von den
Sachverständigen insbesondere in der
ambulanten Versorgungsebene große
Potenziale gesehen. Begründet wird
dies mit der zunehmenden Verkür-
zung der Verweildauer in den Kran-
kenhäusern. Im Jahr 2010 betrug die
Verweildauer bei mehr als einem Drit-
tel aller im Krankenhaus erbrachten
stationären Fälle höchstens drei Tage,
sodass es in Deutschland 6 Millionen
stationäre Fälle als Kurzzeitlieger
gegeben hat. Man kann sicherlich
davon ausgehen, dass nicht alle Fälle
ambulant hätten erbracht werden
können, sondern dass die Liegedauer
durch eine Leistungsverdichtung im
Krankenhaus zustande gekommen ist.
Ein großer Anteilhätte aber bei ent-
sprechender Organisationsstruktur
auch ambulant versorgt werden kön-
nen, sei es von einem niedergelasse-
nen Facharzt oder von einem Kran-
kenhaus. Die Vorstellung, dass die
schwierigen Fälle allesamt im statio-
nären Bereich und die weniger
schwierigen im ambulanten Bereich
durchgeführt werden, bestätigt sich
nach Angaben des Sachverständigen
im Übrigen nicht. Dennoch muss im
Vergleich zu anderen Ländern festge-
halten werden, dass sich Deutschland
eine relativ hohe Versorgungsdichte in
der ambulanten fachärztlichen Versor-
gung leistet. Hoffnung setzt man vor
allem auf Verbünde beim Heben der
Rationalisierungsreserven. Dabei spie-
len Krankenhausverbünde, Medizini-
sche Versorgungszentren und ambu-
lante Großpraxen die wesentliche
Rolle.
Neuer § 116b ausdrücklich
begrüßt
Ausführlich beschäftigt sich der Sach-
verständigenrat mit dem § 116 b alt
und neu. Die zur Verfügung stehenden
Zahlen mit der seitherigen Bewilli-
gungsquote zeigen eine zwischen den
Bundesländern sehr unterschiedliche
Praxis der Genehmigungsverfahren in
den zuständigen Sozialministerien.
Besonders gering ausgeprägt ist die
Bereitschaft, 116 b-Verträge nach dem
alten Muster auf den Weg zu bringen,
in Baden-Württemberg wie auch in
Bayern, Berlin, Brandenburg, Nieder-
sachsen, Nordrhein-Westfalen, Saar-
land, Sachsen, Sachsen-Anhalt und
Thüringen, offener mit den Verträgen
ist man in Brandenburg, Bremen, Hes-
sen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpom-
mern, Schleswig-Holstein und in
Rheinland-Pfalz umgegangen. Eine
einheitliche Praxis bei der Umsetzung
des alten § 116 b hat es offensichtlich
nicht gegeben. Der alte Paragraph
Gutachten des Sachverständigenrats
(Fortsetzung von Seite 1)
Lob und Tadel für den Gesetzgeber
Das neue Gutachtes des Sachverständigenrates beleuchtet viele Aspekte des deutschen Gesundheits-
wesens, befasst sich aber vorwiegend mit dem Wettbewerb an den Schnittstellen der Gesundheitsver-
sorgung. Insgesamt kommen die Gutachter am Schluss zu der Auffassung, dass vieles im deutschen
Gesundheitswesen verbesserungswürdig ist.
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