Das Landgericht Hamburg hat das
Verhalten der Referentin als Beste-
chung im geschäftlichen Verkehr
gewertet (GesR 2011, 164). Eine Straf-
barkeit nach § 334 StGB hat es ver-
neint, weil die Vertragsärzte nicht als
Amtsträger angesehen werden könn-
ten. Diese seien nicht zur Wahrneh-
mung von Aufgaben der öffentlichen
Verwaltung bestellt und würden
wegen ihrer Eigenverantwortung und
ihrer weitreichenden Entscheidungs-
befugnisse auch von der Allgemein-
heit nicht als verlängerter Arm der
Verwaltung wahrgenommen. Die Ver-
tragsärzte seien jedoch Beauftragte
der Krankenkassen im Sinne des
§ 299 StGB. Ungeachtet ihrer öffent-
lich-rechtlichen Organisationsform
seien die Krankenkassen insoweit als
„geschäftliche Betriebe“ anzusehen.
Ist ein niedergelassener Arzt
Amtsträger?
Auf die Revision der Referentin hat
der 5. Strafsenat dem Großen Senat
für Strafsachen beim BGH die Frage
vorgelegt, ob ein niedergelassener, für
die vertragsärztliche Versorgung
zugelassener Arzt Amtsträger im
Sinne der Straftaten im Amt (§§ 331
ff. StGB) ist, wenn er im Rahmen der
vertragsärztlichen Versorgung von
Kassenpatienten tätig wird und die-
sen Medikamente verordnet. Hilfs-
weise für den Fall der Verneinung
dieser Frage hat der Senat angefragt,
ob ein solcher Arzt in diesen Fällen
Beauftragter eines geschäftlichen
Betriebs im geschäftlichen Verkehr im
Sinne des § 299 StGB ist. Die Frage der
Amtsträgereigenschaft des Vertrags-
arztes stelle sich in einer Vielzahl von
Fällen. Höchstrichterliche Entschei-
dungen dazu hat es bisher nicht gege-
ben.
Der BGH wertet die gesetzlichen
Krankenkassen als „sonstige Stellen“
der öffentlichen Verwaltung im Sinne
des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB.
Dabei ergibt sich der spezifisch
öffentlich-rechtliche Bezug, der eine
Gleichstellung ihrer Tätigkeit mit
behördlichem Handeln rechtfertigt,
aus den gesetzlich vorgegebenen Ver-
bandsstrukturen auf Landes- und
Bundesebene, der Gesetzesbindung
der Krankenkassen sowie aus dem
Umstand, dass sie bei ihrer Aufgaben-
erfüllung staatlicher Rechtsaufsicht
unterliegen. Indem sie auf der Grund-
lage des für sie in den §§ 1, 2 SGB V
formulierten gesetzlichen Auftrags als
solidarische und eigenverantwortli-
che Krankenversicherung ihren bei-
tragspflichtigen Pflichtmitgliedern
Leistungen zur Verfügung stellen,
nehmen sie – in mittelbarer Staats-
verwaltung – Aufgaben der öffentli-
chen Verwaltung wahr.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die
Vertragsärzte im Auftrag der gesetzli-
chen Krankenkassen Aufgaben der
öffentlichen Verwaltung wahrneh-
men. Zwar steht für das Gericht außer
Frage, dass das System der gesetzli-
chen Krankenversicherung als Ganzes
eine aus dem Sozialstaatsgrundsatz
des Art. 20 Abs. 1 GG folgende Aufga-
be erfüllt, durch deren Wahrnehmung
in hohem Maße Interessen nicht
allein der einzelnen Versicherten,
sondern der Allgemeinheit wahrge-
nommen werden. Auch wenn die
Leistungen der gesetzlichen Kranken-
versicherung letztlich den jeweils
Versicherten zukommen und das Sys-
tem insgesamt die gesetzliche Aufga-
be hat, „die Gesundheit der Versicher-
ten zu erhalten, wiederherzustellen
oder ihren Gesundheitszustand zu
bessern“ (§ 1 SGB V), stehen bei der
Ausgestaltung des Systems die
Gesichtspunkte der solidarischen
Finanzierung, der (eingeschränkten)
Zwangs-Mitgliedschaft der Versicher-
ten sowie der Erfüllung allgemeiner
gesundheitspolitischer Anliegen im
Vordergrund. Das Vertragsarztsystem
der gesetzlichen Krankenversicherung
ist darauf ausgerichtet, eine flächen-
deckende, gleichmäßige, an allgemei-
nen Qualitätsstandards und solidari-
schen Wirtschaftlichkeits-Gesichts-
punkten ausgerichtete Versorgung der
Gesamtbevölkerung der Bundesrepu-
blik mit Leistungen der Heil- und
Gesundheitsfürsorge sicherzustellen.
Dies ist nach Auffassung des BGH
unzweifelhaft eine öffentliche Aufga-
be.
Jedoch sei das System der vertrags-
ärztlichen Versorgung so ausgestaltet,
dass der einzelne Vertragsarzt keine
Aufgabe öffentlicher Verwaltung
wahrnimmt.
Zu prüfen sei jeweils, ob der Tätigkeit
der betreffenden Person im Verhältnis
zum Bürger der Charakter – wenn
auch nur mittelbar – eines hoheitli-
chen Eingriffs zukommt oder ob das
persönliche Verhältnis zwischen den
Beteiligten so im Vordergrund steht,
dass ein hoheitlicher Charakter der
Erfüllung öffentlicher Aufgaben
dahinter zurücktritt. Letzteres ist
nach Ansicht des Großen Senats im
Verhältnis zwischen Vertragsarzt und
Patient der Fall.
Freiberufliche Tätigkeit betont
Der Große Senat betonte: Die Ver-
tragsärzte üben ihren Beruf in freibe-
ruflicher Tätigkeit aus (§ 18 Abs. 1
Nr. 1 Satz 2 EStG), auch wenn die
Zulassung zur vertragsärztlichen Ver-
sorgung zur Teilnahme an dieser Ver-
sorgung nicht nur berechtigt, sondern
auch verpflichtet (§ 95 Abs. 3 Satz 1
SGB V). Der Vertragsarzt ist nicht
Angestellter oder bloßer Funktions-
träger einer öffentlichen Behörde; er
wird im konkreten Fall nicht aufgrund
einer in eine hierarchische Struktur
integrierten Dienststellung tätig, son-
dern aufgrund der individuellen, frei-
en Auswahl der versicherten Person.
Er nimmt damit eine im Konzept der
gesetzlichen Krankenversicherung
vorgesehene, speziell ausgestaltete
Zwischenposition ein, die ihn von
dem in einem öffentlichen Kranken-
haus angestellten Arzt, aber auch von
solchen Ärzten unterscheidet, die in
einem staatlichen System ambulanter
Heilfürsorge nach dem Modell eines
Poliklinik-Systems tätig sind.
Das Verhältnis des Versicherten zum
Vertragsarzt wird demnach wesent-
lich bestimmt von Elementen persön-
lichen Vertrauens und einer der
Bestimmung durch die Krankenkassen
entzogenen Gestaltungsfreiheit: Die
Versicherten können unter den zur
vertragsärztlichen Versorgung zuge-
lassenen Ärzten (und anderen Leis-
tungserbringern) frei wählen. Sowohl
der Gegenstand als auch die Form
und die Dauer der Behandlung sind
einem bestimmenden Einfluss der
Krankenkasse entzogen und ergeben
sich allein in dem jeweiligen persön-
lich geprägten Verhältnis zwischen
Patient und Vertragsarzt. In diesem
Verhältnis steht der Gesichtspunkt
der individuell geprägten, auf Ver-
trauen sowie freier Auswahl und
Gestaltung beruhenden persönlichen
Beziehung in einem solchen Maß im
Vordergrund, dass weder aus der sub-
jektiven Sicht der Beteiligten noch
nach objektiven Gesichtspunkten die
Einbindung des Vertragsarztes in das
System öffentlicher, staatlich gelenk-
ter Daseinsfürsorge überwiegt und
die vertragsärztliche Tätigkeit den
Charakter einer hoheitlich gesteuer-
ten Verwaltungsausübung gewinnt.
Auch die Regelungen über die Ausstel-
lung einer vertragsärztlichen Verord-
nung von Arznei-, Heil- oder Hilfsmit-
teln rechtfertigen nicht die Annahme,
der Vertragsarzt handle insoweit in
Ausführung öffentlicher Verwaltung.
Die Verordnung konkretisiere zwar
die gesetzlichen Leistungsansprüche
der Versicherten auf Sachleistungen;
sie sei aber untrennbarer Bestandteil
der ärztlichen Behandlung und voll-
ziehe sich innerhalb des Personal-
geprägten Vertrauensverhältnisses
zwischen der versicherten Person und
dem von ihr gewählten Vertragsarzt;
sie ist vom Arzt an seiner aus § 1 BÄO
folgenden Verpflichtung auszurichten,
ohne dass die gesetzliche Krankenkas-
se hierauf einwirken könnte.
Ärztliche Heilbehandlung nicht
mit öffentlichem Amt vereinbar
Dass der Vertragsarzt keine Aufgabe
öffentlicher Verwaltung wahrnimmt,
entspricht im Übrigen auch der zivil-
rechtlichen Betrachtungsweise. Der
Bundesgerichtshof hat in Zivilsachen
mehrfach hervorgehoben, dass – von
wenigen Ausnahmen abgesehen – die
ärztliche Heilbehandlung ihrem
Grundgedanken nach mit der Aus-
übung eines öffentlichen Amts unver-
einbar sei. Zwischen dem Vertragsarzt
und dem Patienten kommt ein zivil-
rechtliches Behandlungsverhältnis
zustande. Im Fall der Schlechterfül-
lung des Behandlungsvertrags haftet
der Arzt nicht nach Amtshaftungs-
grundsätzen. Dass dieses bürgerlich-
rechtliche Rechtsverhältnis von den
Vorschriften des Sozialversicherungs-
rechts überlagert wird, ändere daran
nichts.
Gemäß § 72 Abs. 1 Satz 1 SGB V wir-
ken die Leistungserbringer, also auch
die Vertragsärzte, mit den Kranken-
kassen zur Sicherstellung der ver-
tragsärztlichen Versorgung zusam-
men; gemäß § 72 Abs. 2 Satz 1 SGB V
ist diese Versorgung durch Vereinba-
rungen zwischen den Kassenärztli-
chen Vereinigungen und den Verbän-
den der Krankenkassen so zu regeln,
dass eine ausreichende, zweckmäßige
und wirtschaftliche Versorgung der
Versicherten gewährleistet ist und die
ärztlichen Leistungen angemessen
vergütet werden. Das in den nachfol-
genden Vorschriften des SGB V im
Einzelnen ausgestaltete System der
Selbstverwaltung bezweckt die
Sicherstellung der ärztlichen Behand-
lung der gesetzlich Versicherten vor
dem Hintergrund eines prinzipiellen
Interessengegensatzes zwischen den
an dieser Versorgung Beteiligten. Da
der Ausgleich dieser gegenläufigen
Interessen vom Gesetzgeber der kol-
lektivvertraglichen Normsetzung und
vertraglichen Regelungen zwischen
den Vertragsärzten und ihren Vertre-
tungen, den Kassenärztlichen Vereini-
gungen einerseits und den Kranken-
kassen andererseits im Rahmen eines
Systems der Selbstverwaltung über-
antwortet worden sei, begegneten
sich die an der ärztlichen Versorgung
Beteiligten in kooperativem Zusam-
menwirken und damit notwendig auf
einer Ebene der Gleichordnung. Schon
dieses gesetzlich vorgegebene Kon-
zept gleichgeordneten Zusammenwir-
kens stehe der Annahme einer Beauf-
tragung des Vertragsarztes durch die
gesetzlichen Krankenkassen entgegen.
Arzt-Patienten-Verhältnis im
Mittelpunkt
Es komme hinzu, dass die gesetzliche
Krankenkasse keinerlei und der Ver-
tragsarzt nur in geringem Maße Ein-
fluss auf das Zustandekommen des
einzelnen Behandlungsverhältnisses
nehmen kann, auf dessen Grundlage
sich die ärztliche Verordnung eines
Arzneimittels zu Lasten der Kranken-
kasse vollzieht. Vielmehr liegt diese
Entscheidung beim Patienten, der sei-
nen Vertragsarzt frei wählen kann.
Den gewählten Arzt hat die Kranken-
kasse zu akzeptieren. Dieser wird
vom Versicherten als „sein“ Arzt
wahrgenommen, den er beauftragt
hat und dem er sein Vertrauen
schenkt. Auch aus objektiver Sicht
wird der Vertragsarzt bei wertender
Betrachtung in erster Linie in dessen
Interesse tätig.
(BGH, Beschluss vom 29. März 2012 -
GSSt 2/11 - LG Hamburg)
KS
Vertragsarzt ist Partner des Patienten
Wegweisendes Urteil des BGH zur Freiberuflichkeit
(Fortsetzung von Seite 1)
Berufspolitik
Nr. 8/9 • August 2012
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Vertragsärzte sind keine Amtsträger. Auch die Regelungen über die Ausstellung einer vertragsärztlichen Verordnung von Arznei-, Heil- oder Hilfsmitteln recht-
fertigen nicht die Annahme, der Vertragsarzt handle in Ausführung öffentlicher Verwaltung. Mit seinem wegweisenden Urteil hat der Bundesgerichtshof die
Freiberuflichkeit des Arztes gestärkt.
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