Medizin
Nr. 8/9 • August 2012
12
Die damals 82-jährige Patientin stellte
sich 8 Monate vor der aktuellen Auf-
nahme wegen einer Blutungsneigung
in einer hämatoonkologischen Schwer-
punktpraxis vor. Seit 7 Jahren waren
diagnostisch nicht verfolgte erhöhte
Leukozytenzahlen bekannt. Laborche-
misch fanden sich zu diesem Zeitpunkt
eine erhebliche Leukozytose (67/nl),
überwiegend aus Lymphozyten beste-
hend (56/nl), außerdem eine Thrombo-
zytopenie (82/nl) und eine Anämie
(Hb 10 g/dl). INR und PTT lagen ebenso
im Normbereich wie Bilirubin
(0,3 mg/dl), GPT (10 U/l) und γGT
(11 U/l). Bildgebend war die Milz
erheblich (17,5 × 12,3 cm), die Leber
mäßig vergrößert; darüber hinaus fan-
den sich multiple bis zu 2 cm große
Lymphknoten im Bereich der Leber-
pforte und interaortokaval.
Im peripheren Venenblut zeigte sich
eine leukämische Ausschwemmung
durch ein indolentes Non-Hodgkin-
Lymphom der B-Zell-Reihe, in der
Beckenkammtrepanat-Histologie
machten die CD20-positiven Lym-
phomzellen ca. 95 % der Knochenmark-
zellen aus. Morphologie und das für
eine B-CLL untypische Fehlen der
Koexpression CD5/23 sprachen für eine
Prolymphozytenleukämie, möglicher-
weise aus einer B-CLL hervorgegangen.
Insgesamt wurden 6 Zyklen Bendamus-
tin und Rituximab gegeben. Die Pro-
lymphozytenleukämie sprach gut auf
die Therapie an, die therapiebegleitend
monatlich kontrollierten Transamina-
sen lagen stets im Normbereich.
6 Monate nach Beginn der Therapie
und ca. 3 Wochen nach dem 6. Zyklus
Bendamustin/Rituximab stellte sich die
Patientin mit seit einigen Tagen beste-
hender Übelkeit, rezidivierendem
Erbrechen, Inappetenz, Nachtschweiß
und einem neu aufgetretenen Ikterus
erneut vor. In der ambulanten Labordi-
agnostik zeigten sich jetzt bei weitge-
hend unauffälligen hämatologischen
Parametern (Leukozyten 4,6/nl, Hb
13,5 g/dl, Thrombozyten 119/nl) Zei-
chen einer massiven Leberschädigung.
In der umgehend veranlassten Hepati-
tisserologie fand sich ein positives HBs-
Antigen mit positivem HBe-Ag und
positivem Anti-HBc-IgG bei negativem
Anti-HBc-IgM, so dass die Patientin
unter der Diagnose einer reaktivierten
Hepatitis-B-Infektion umgehend statio-
när eingewiesen wurde.
Körperlicher Untersuchungsbefund
83-jährige Patientin in reduziertem All-
gemeinzustand, massiv ikterisch.
54 kg/1,60 m. 3/6-Systolikum mit Fort-
leitung in die Karotiden. Blutdruck
117/66 mm Hg, Herzfrequenz 117/min,
Temperatur 36,2 °C. Sonstiger körperli-
cher Untersuchungsbefund unauffällig.
Klinisch-chemische Untersuchungen
GOT 1392 U/l, GPT 1353 U/l, Bilirubin
27,8 mg/dl, davon direktes Bilirubin
12,7 mg/dl. γGT 192 U/l, LDH 366 U/l,
AP 288 U/l, Cholinesterase 3371 U/l,
INR 1,65. Albumin 3,4 g/dl, Gesamtei-
weiß 5,3 g/dl, CRP 22,3 g/l. Anti-HAV-
positiv, Anti-HAV-IgM negativ; Anti-
HCV-negativ. Anti-HIV-negativ. HBV-
DNA mit 1,65 Mio. Kopien/ml hoch
positiv.
Ergänzende Untersuchungen
In der Abdomensonographie fanden sich
eine mäßige Splenomegalie (14 × 5 cm),
ein im Vergleich zur Niere etwas echo-
reicheres Leberparenchym ohne fokale
Läsionen und geringe Mengen von Aszi-
tes perihepatisch und perisplenisch.
Therapie und Verlauf
Die Laborparameter bestätigten die
Diagnose einer schweren Chemothera-
pie-induzierten Reaktivierung einer
zuvor nicht bekannten chronischen
Hepatitis B mit einem drohenden
Leberversagen (bei bereits einge-
schränkter plasmatischer Gerinnung).
Die Patientin wurde umgehend mit
dem Nukleosidanalogon Entecavir
(0,5 mg/d p. o.) therapiert. Darunter
kam es bereits innerhalb weniger Tage
zu einem deutlichen Rückgang der
Transaminasen und etwas verzögert
ebenfalls zu einem deutlichen Rück-
gang des Bilirubins (Abb. 1 und 2).
Das Befinden der Patientin besserte
sich deutlich, sie konnte nach 12 Tagen
entlassen werden. 2 Wochen nach
Beginn der Entecavirtherapie war die
HBV-DNA von 1.650.000 auf 52.500
Kopien/ml gefallen. Nach weiteren
4 Wochen lagen normale Transamina-
sen vor, nach 3 Monaten war auch das
Bilirubin komplett normalisiert. Unter
fortgesetzter Entecavirtherapie war die
HBV-DNA 4 Monate nach Beginn der
Therapie nicht mehr nachweisbar
(Abb. 3). Die Prolymphozytenleukämie
blieb weiterhin in Remission. Bei einer
Kontrolle nach 8 Monaten war das
HBs-Ag negativ, der Anti-HBs-Antikör-
pertiter lag über 1000 IE/l.
Diskussion
Der hier dargestellte Fall beschreibt
eindrücklich die potenziell deletären
Konsequenzen der Reaktivierung einer
chronischen Hepatitis B unter einer
therapeutischen Immunsuppression.
Wie bei vielen in der Literatur
beschriebenen Fällen [2] war auch bei
unserer Patientin die Hepatitis B zuvor
nicht bekannt und wurde erst nach der
Reaktivierung diagnostiziert. Der Fall
unterstreicht die Bedeutung des in den
Leitlinien empfohlenen Hepatitis-B-
Screenings bei allen Patienten mit
iatrogener Immunsuppression [3]. Eine
solche Reaktivierung kann nicht nur
bei HBs-Ag-positiven, sondern auch bei
anti-HBc-positiven HBs-Ag-negativen
Patienten auftreten und ist mit einer
hohen Letalität assoziiert [14]. In einer
aktuellen Arbeit starben 7 von 23
Patienten mit einer unter Immunsup-
pression reaktivierten Hepatitis-B-
Infektion, 5 von ihnen trotz virostati-
scher Therapie mit Lamivudin [2]. Die
Inzidenz einer Hepatitis-B-Reaktivie-
rung während bzw. nach einer Chemo-
therapie wird bei HBs-Ag-Trägern mit
15-50 % angegeben, nach Knochen-
marktransplantation sogar mit über
75 % [3]. Ein besonders hohes Risiko für
eine Hepatitis-B-Reaktivierung ist bei
Lymphomen [14] und bei einer Thera-
pie mit Anti-CD20-Antikörpern
beschrieben, wie sie in dem hier darge-
stellten Fall eingesetzt wurden.
HB-Ag-positive Patienten sollen daher
unabhängig von der Höhe der HBV-
DNA bei einer entsprechenden Immun-
suppression mit einem HBV-Polymera-
se-Inhibitor behandelt werden, der
während und bis 12 Monate nach
Beendigung der immunsuppressiven
Therapie gegeben werden soll [14]. Die
klinische Praxis zeigt allerdings, dass
eine solche Prophylaxe häufig nicht
durchgeführt wird [2]. Nach Beendi-
gung der Therapie wird eine laborche-
mische Kontrolle nach 4, 12 und 24
Wochen empfohlen [3].
In den vergangenen Jahren ist zur Pro-
phylaxe überwiegend Lamivudin ein-
gesetzt worden [5, 8]. Bei HBs-Ag-posi-
tiven Patienten unter Chemotherapie
soll eine Lamivudinprophylaxe das Auf-
treten einer Hepatitis-B-Reaktivierung
von 56 auf 2,4 % senken [7]. Die aktuel-
len Leitlinien der DGVS halten auch
weiterhin eine prophylaktische Lami-
vudintherapie bei niedrig virämischen
Patienten ohne fortgeschrittene Leber-
fibrose für ausreichend, empfehlen
ansonsten aber eine Auswahl der Sub-
stanzen entsprechend der Viruslast,
Komorbiditäten und Stadium der
Lebererkrankung [3], d. h. ggf. auch den
prophylaktischen Einsatz eines poten-
teren, weniger resistenzanfälligen
Nukleosid- oder Nukleotidanalogons.
Eine chinesische Vergleichsstudie zwi-
schen Lamivudin und Entecavir in der
Prophylaxe bei Lymphompatienten mit
Chemotherapie beschreibt eine signifi-
kante Überlegenheit von Entecavir [6].
Bei einer Immunsuppression mit Anti-
CD20-Antikörpern wird selbst in einer
Konstellation mit Anti-HBc-Positivität
und HBs-Ag-Negativität eine präempti-
ve Therapie diskutiert („kann“ Empfeh-
lung in den Leitlinien, Empfehlungsgrad
C; [3]). Zur Therapie einer unter
Immunsuppression reaktivierten ful-
minanten Hepatitis B liegen nur Einzel-
fallberichte und kleinere Fallserien vor.
Eingesetzt wurden bislang vorwiegend
Lamivudin, Adefovir [4] und nur ver-
einzelt Entecavir, Tenofovir oder Telbi-
vudin [2, 9–12]. Die neueren Nukleo-
sidanaloga Entecavir, Tenofovir und Tel-
bivudin weisen gegenüber dem seit
vielen Jahren verfügbaren Lamivudin
neben einer höheren virostatischen
Potenz den Vorteil einer höheren Resis-
tenzstabilität auf. Dies war auch in dem
vorliegenden Fall der wesentliche
Grund, eine Entecavirtherapie zu
beginnen. Die bisherigen Berichte über
die Effektivität einer Therapie mit
neueren Nukleosidanaloga bei Hepati-
tis-B-Reaktivierung sind uneinheitlich.
Während vereinzelt über überzeugen-
de Behandlungserfolge wie in unserem
Fall berichtet wird [1, 2, 10, 11], konnte
in anderen Fallberichten trotz Therapie
mit neueren Nukleosid-analoga das ful-
minante Leberversagen nicht verhin-
dert werden [12]. Eine Serokonversion
zu Anti-HBs-Antikörpern wie bei unse-
rer Patientin ist nur vereinzelt
beschrieben worden und kann zum
einen auf den Effekt der Virostatika
zurückgeführt werden, zum anderen
aber auch Folge der körpereigenen
Immunreaktion nach Absetzen der
immunsuppressiven Therapie sein [9].
Der hier geschilderte Fall unterstreicht
eindrucksvoll die aktuellen Empfehlun-
gen, bei schweren Reaktivierungen
einer chronischen oder okkulten Hepa-
titis B unter Immunsuppression umge-
hend mit einem der potenten antivira-
len Medikamente zu therapieren [13].
Konsequenz für Klinik und Praxis
▶ Bei immunsupprimierenden Thera-
pien, insbesondere bei der Applikati-
on von Anti-CD20-Antikörpern, ist
auch bei unauffälligen Leberwerten
eine prätherapeutische Untersu-
chung auf eine asymptomatische
Hepatitis B Pflicht, um gegebenen-
falls eine präemptive Therapie mit
Nukleosidanaloga einzuleiten.
▶ Eine durch die Chemotherapie indu-
zierte Reaktivierung einer Hepatitis
B ist mit einer hohen Letalität assozi-
iert, kann in Einzelfällen aber sehr
einfach und erfolgreich durch poten-
te und resistenzstabile Nukleosid-
analoga therapiert werden.
Autorenerklärung: Die Autoren erklä-
ren, dass sie keine finanziellen Verbin-
dungen mit einer Firma haben, deren
Produkt in diesem Artikel eine wichtige
Rolle spielt (oder mit einer Firma, die
ein Konkurrenzprodukt vertreibt).
G. Lock 1 , F. Helmich 1 , M. Bertram 2
1 Klinik für Innere Medizin, Albertinen-
krankenhaus Hamburg
2 Hämatoonkologische Schwerpunkt-
praxis, Hamburg
Korrespondenz
Prof. Dr. Guntram Lock
Klinik für Innere Medizin, Albertinen-
krankenhaus Hamburg
Süntelstr. 11a, 22457 Hamburg
Telefon: 040/5588-2262
Fax: 040/5588-2383
eMail: guntram.lock@albertinen.de
Die Literatur zum Beitrag finden Sie auf
den Seiten von BDI aktuell (www.bdi.de)
Der Beitrag ist erstmals erschienen in der
Deutschen Medizinischen Wochenschrift
(Dtsch Med Wochenschr 2012; 137:
1248–1250). Alle Rechte vorbehalten.
Erfolgreiche Therapie bei drohendem Leber-
versagen nach Reaktivierung einer Hepatitis B
Kasuistik
Eine intensive Immunsuppression kann zu einer lebensbedrohlichen Reaktivierung einer zuvor unerkann-
ten oder asymptomatischen Hepatitis-B-Virusinfektion führen. Die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs-
und Stoffwechselkrankheiten empfiehlt in ihren Leitlinien daher eine Hepatitis-B-Virus-Diagnostik vor bzw.
während einer immunsuppressiven Therapie oder Chemotherapie (Evidenzgrad IIc, outcome research Studi-
en) [3]. Wir berichten über eine Patientin, bei der eine Chemotherapie im Rahmen einer Prolymphozyten-
leukämie zu einer lebensbedrohlichen Aktivierung einer zuvor unerkannten Hepatitis B führte. Eine Thera-
pie mit einem neueren Nukleosidanalogon führte zu einer raschen und nachhaltigen Besserung.
Abb. 1
GPT-Verlauf unter Entecavirtherapie.
1600
800
600
1000
GPT (U/I)
Tage nach Therapiebeginn
400
200
0
0
3
7
18
45
86
130
1200
1400
35
15
10
20
Bilirubin (mg/dl)
Tage nach Therapiebeginn
5
0
0
3
7
18
45
86
130
25
30
1800000
1000000
800000
1200000
HBV DNA (Kopien/ml)
Tage nach Therapiebeginn
600000
400000
200000
0
0
13
59
130
1400000
1600000
Abb. 2
Bilirubinverlauf unter Entecavirtherapie.
Abb. 3
Verlauf der HBV-DNA.