So geschehen auch beim Tagungsord-
nungspunkt III „Förderung kooperati-
ver Versorgungsstrukturen“. Als ob
man solche Situationsbeschreibungen,
Bestandsaufnahmen und Forderungen
nicht schon einmal gehört hätte,
beschloss der Ärztetag einen vom Vor-
stand der Bundesärztekammer (BÄK)
formulierten und von einem durch die
Kammerpräsidentinnen Dr. med.
Gudrun Gitter (Bremen) und Dr. med.
Martina Wenker (Niedersachsen)
ergänzten Antrag im Kern all das, was
bereits der 111. Deutsche Ärztetag
2008 in Ulm in den Mittelpunkt der
„Gesundheitspolitischen Leitsätze“
rückte. Unter Beachtung der aktuellen
Diskussion ebenso wie der gesund-
heitspolitischen Programme der Par-
teien ist der Nürnberger Ärztetagsbe-
schluss kein großer Wurf. Ungeachtet
dessen soll er dazu beitragen, durch
eine verstärkte Kooperation und bes-
sere Verzahnung der Leistungssekto-
ren „die Wettbewerbsfähigkeit der in
wirtschaftlicher Selbstständigkeit täti-
gen Ärztinnen und Ärzte langfristig zu
sichern“.
Sektorenübergreifende Kooperation
Unter der Devise „Im Westen nichts
Neues“ betont der Ärztetag, sektoren-
übergreifende Kooperationsformen
unter Einschluss des kooperativen
Belegarztwesens flexibel zu nutzen
und finanzielle Rahmenbedingungen
beim Gesetzgeber und den Vertrags-
partnern einzufordern. Optimierungs-
maßnahmen müssten mobilisiert und
neue Formen der Kooperation und
Vernetzung gefördert werden. Pendant
der Kooperation und Vernetzung sei
die Koordination des Leistungsgesche-
hens, die in der Regel Aufgabe des
Hausarztes und des Hausarztinternis-
ten sei. Diese Funktion müsse medizi-
nisch begründbaren Regularien folgen,
die zwischen den Versorgungsebenen
zu vereinbaren sind. Eine arbeitsteilige
Gestaltung der Versorgungsstrukturen
und -ebenen sei nicht zuletzt der
hochtechnisierten Diagnostik und The-
rapie, der Ausdifferenzierung in Sub-
spezialitäten, der demografischen Ent-
wicklung sowie den „multimodalen
Konzepten“ geschuldet. Die Innovati-
onskraft des Gesundheitswesens und
der medizinische Fortschritt machten
„bereits jetzt eine stärkere interdiszip-
linäre und berufsgruppenübergreifen-
de Zusammenarbeit unabdingbar“. Nur
zaghaft unterstützt der Ärztetag die
Forderung nach mehr Kooperation und
Vernetzung zwischen Haus-, Fach- und
Krankenhausärzten sowie weiteren
Gesundheitsberufen auch durch „ande-
re geeignete Berufsgruppen“. Die
„heile Welt“ beschwört der Ärztetag:
Flexible Kooperationen und realisier-
bare Verzahnungen (nicht: Verbei-
ßung!) sollten möglichst patientenzen-
triert organisiert werden. Die ambu-
lanten und stationären Behandlungs-
leistungen sollten im Rahmen einer
interdisziplinären Kooperation durch
Angebote der Prävention, Rehabilitati-
on und zur Arzneimittelversorgung
ergänzt und mit Leistungen von sozia-
len Einrichtungen und Patientenorga-
nisationen (Selbsthilfe!) verzahnt wer-
den. All dies und auch die vermehrte
Einschaltung von Honorarärzten in die
ärztliche Versorgung sei nicht Ursache,
sondern vielmehr eine Folge des
immer spürbar werdenden Ärzteman-
gels. Bei allem Kooperationsdrang
müsse zur Kenntnis genommen wer-
den, dass auch künftig Einzelpraxen
sowohl in der Haus- als auch in der
fachärztlichen Versorgung notwendig
seien. Durchgängig müssten die
Kooperations- und Berufsausübungs-
formen breiter aufgestellt werden.
Moderne Versorgungsstrukturen im
haus- und fachärztlichen Sektor seien
durch eine Dominanz von Gemein-
schaftspraxen und anderen Kooperati-
onsformen geprägt. Es bedürfe keines
speziellen „Landärztegesetzes“, son-
dern der Realisierung von Förderungs-
konzepten in Gebieten mit Ärzteman-
gel. Empfohlen wird der Einsatz von
kommunalen Fahr- und Transportmög-
lichkeiten für Patienten, um den Ziel
einer flächendeckenden Versorgung
näher zu kommen.
Sechs Aktionshebel
Sechs Versorgungskonzepten für mehr
Kooperation und zur flexiblen Struk-
turgestaltung will der Ärztetag beson-
dere Pflege angedeihen lassen:
▶ Gemeinschaftspraxen im Gebiet und
gebietsübergreifend, Versorgungs-
praxen, fachärztliche Satellitenpra-
xen, mit möglicherweise abwech-
selnder Besetzung durch unter-
schiedliche Fachärztinnen und Fach-
ärzte, Ärztehäuser und/oder regiona-
le Versorgungszentren in ärztlicher
Leitungsregie.
▶ Kooperation in Praxisnetzen durch
Vernetzung von Ärzten einer Region,
gegebenenfalls einschließlich ande-
rer Gesundheitsberufe, möglichst
unter Einbeziehung des stationären
Sektors und insbesondere der Rege-
lung eines geordneten Übergangs
zwischen den verschiedenen Versor-
gungsbereichen (ambulant/statio-
när/ambulant).
▶ Intensivierung der Kooperation von
Haus- und Fachärzten mit den Pfle-
geberufen im Pflegeheim und mit
den ambulanten Pflegediensten.
▶ Ausbau ambulanter Rehabilitations-
einrichtungen, insbesondere der ger-
iatrischen Reha, durch Bildung
ambulanter Rehabilitationszentren.
In diesen sollen die Fachärzte unter-
schiedlicher Fachgebiete mit den
zuständigen Gesundheitsberufen
zusammenarbeiten.
▶ Ausbau von Präventionsmaßnahmen
durch die Einbeziehung aller rele-
vanten Gesundheitsfachberufe und
anderer Berufe, wie etwa professio-
nelle Übungsleiter der Sportvereine.
▶ Ausbau der Zusammenarbeit mit
Selbsthilfegruppen, der Jugend- und
Suchthilfe sowie psychiatrischen
Tagesstätten.
In einer Art von obrigkeitstreuer Ver-
neigung vor dem GKV-Versorgungs-
strukturgesetz und dem Vertragsarzt-
rechtsänderungsgesetz bekennt sich
der Ärztetag zu einem Schnittstellen-
management zwischen ambulantem
und stationärem Bereich durch den
Ausbau sektorenübergreifender Ver-
sorgungsstrukturen. Essenziell sei
dabei die gleichzeitige Tätigkeit als
Vertragsarzt und Krankenhausarzt. Zu
einem aktuellen „Dollpunkt“ der
Reformdiskussion, der Bestimmung
und rechtlichen Etablierung etwa von
Honorarärzten, schweigt sich der
Beschluss allerdings aus. Dagegen sol-
len die Möglichkeiten des zum 1. Janu-
ar 2012 neu gefassten § 87 b SGB V
genutzt werden. Danach können die
Kassenärztlichen Vereinigungen
zusätzliche Honorarvolumina für
bestimmte qualitätsverbessernde
Maßnahmen ausweisen und/oder das
Honorar für die medizinische Versor-
gung einer Region zur Verfügung stel-
len. Als eine Verneigung gegenüber
den hausärztlichen Anliegen kann der
Passus verstanden werden, dass die
vernetzte Versorgung bestimmter
Krankheitsbilder oder einer bestimm-
ten Region im Rahmen der hausärztli-
chen Versorgung in Gang gebracht
werden soll. Um Anreize zu schaffen,
müsse ein zusätzliches Honorarvolu-
men vereinbart werden.
Als probate Ansätze zur Qualitätsstei-
gerung und zur Intensivierung des
Kooperationsmangements werden kol-
legiale Fallkonferenzen, der Ausbau
von Qualitätszirkeln und berufsgrup-
penübergreifende Fortbildungsveran-
staltungen der Ärzteschaft propagiert.
Die „Verbundweiterbildung“ in allen
Gebieten trage zur gebiets- und berufs-
übergreifenden Kooperation bei, hofft
der Ärztetag.
Kooperatives Belegarztsystem
stärken!
Eher halbherzig denn offensiv ist das
Bekenntnis des Deutschen Ärztetages
zum kooperativen Belegarztsystem.
Eine Förderung des Belegarztwesens
und eine Verbesserung der rechtlichen
und finanziellen Rahmenbedingungen
könnten zu einer durchgängigen per-
sonalen und integrativen Versorgung
beitragen. Dazu seien auch gesetzliche
und vertragliche Änderungen notwen-
dig. Eine gemeinsame Tätigkeit mehre-
rer Belegärzte der gleichen Fachrich-
tung ermöglichte eine nahtlose ambu-
lante, vorstationäre, stationäre und
nachstationäre Behandlung durch nie-
dergelassene Fachärztinnen und Fach-
ärzte – zumeist ohne häufigen Arzt-
wechsel. Die Erhaltung und Förderung
belegärztlich geführter Abteilungen
bewirkten eine Bündelung des ärztli-
chen Sachverstandes und eine Leis-
tungsergänzung durch erfahrene
Belegärzte, um die fachlichen Ressour-
cen im stationären Sektor zu nutzen
und zu stärken. So könnten versor-
gungsnotwendige kleinere Kranken-
häuser erhalten und eine flächende-
ckende integrative Versorgung bewirkt
werden. Ohne Wenn und Aber müsse
der Behandlungsvertrag zwischen
Patient und Arzt erhalten bleiben. Die
freiberufliche Ausprägung der beleg-
ärztlichen Tätigkeit in wirtschaftlicher
Selbstständigkeit müsse bewahrt und
die Vergütung den hohen Leistungsan-
forderungen angepasst werden. Außer-
dem müsse für den Einsatz innovativer
Diagnose- und Therapiemaßnahmen
in der stationären Versorgung für
Belegärzte anstatt des Erlaubnisvorbe-
haltes ebenso wie für Krankenhaus-
Hauptabteilungen der Verbotsvorbe-
halt des Gemeinsamen Bundesaus-
schusses gelten, damit Innovationen in
die Belegarztversorgung schnell imple-
mentiert werden können.
An die Politik appellierte der Ärztetag,
die Ankündigungen des Koalitionsver-
trages endlich umzusetzen, um das
kooperative Belegarztwesen als
zukunftsträchtige Versorgungsform
wirtschaftlich zu sichern und auszu-
bauen.
Dr. rer. pol. Harald Clade
Berufspolitik
Nr. 7 • Juli 2012
4
„Innerhalb des Vorstands werde ich
mich als Allgemeinmediziner für die
hausärztlichen Belange einsetzen.
Gleichzeitig will ich als stellvertreten-
der Vorstand Politik für alle niederge-
lassenen Ärzte und Psychotherapeuten
machen. Ich freue mich auf die Zusam-
menarbeit mit meinem Vorstandskolle-
gen Dr. Andreas Köhler. Nur gemein-
sam wird unser Engagement für eine
bessere ambulante Versorgung der
Patienten und eine angemessenere
ärztliche Vergütung Erfolg haben. Wir
haben viele spannende Herausforde-
rungen vor uns, wie die Umsetzung des
Versorgungsstrukturgesetzes, die EBM-
Reform und die Bedarfsplanungsrichtli-
nie“, erklärte Feldmann. Feldmanns
Amtsvorgänger Dr. Carl-Heinz Müller
hatte sein Amt im Februar 2012 aus
persönlichen Gründen niedergelegt.
Hohe Arbeitsbelastung der Ärzte
„Der Arzt ist heute der Dreh- und
Angelpunkt in der Gesundheitsversor-
gung. An je mehr Orten Gesundheits-
versorgung stattfindet, und je mehr
Akteure daran beteiligt sind, desto
stärker bedarf es eines Ankerpunktes,
an dem alle Fäden zusammenlaufen.
Der Arzt ist nicht nur ein ‚Kümmerer‘,
er ist auch Koordinator und Manager.
Er hat eine Schutzfunktion für den
Patienten. Er ist es, der den Überblick
behält, der Behandlungsschritte
abwägt und Prioritäten setzt. Bei all
dem helfen keine Telemedizin, kein
Outsourcing und auch keine Delegati-
on. All das kann nur der Arzt!“, erklär-
te der KBV-Vorsitzende Dr. Andreas
Köhler auf der Vertreterversammlung
am Vorabend des Deutschen Ärztetags
in Nürnberg. Die Entwicklung führe
nicht gerade dazu, dass die Aufgaben
der Ärzte abnähmen, sagte Köhler.
Dies belege jetzt auch eine Umfrage
unter den Ärzten. Ein Ergebnis daraus
ist, dass die Arbeitsbelastung der Ärzte
insgesamt hoch ist und die Zeit für die
Patienten nicht ausreicht. Im Schnitt
arbeiten Haus- und Fachärzte über
55 Stunden in der Woche. Dabei
behandeln Fachärzte mehr als 40
Patienten am Tag, Hausärzte sogar
mehr als 50. Vor allem die Bürokratie
stehle den Ärzten wertvolle Behand-
lungszeit, sagte der KBV-Vorsitzende.
„Das Motto muss lauten: versorgen
statt verwalten!“, erklärte Köhler.
Kooperative Versorgungs-
strukturen
Ein für die ambulante Versorgung rele-
vantes Thema, das auch auf dem Deut-
schen Ärztetag diskutiert wurde, ist
die Förderung kooperativer Versor-
gungsstrukturen in Form von Praxis-
netzen. Der § 87b SGB V legt fest, dass
die KVen bei der Honorarverteilung
kooperative Versorgungsstrukturen
fördern müssen. Das Versorgungs-
strukturgesetz eröffnet den KVen nun
auch explizit die Möglichkeit, Praxis-
netze durch eigene Vergütungsrege-
lungen zu unterstützen. Dazu kann
auch ein eigenes Honorarvolumen im
Rahmen der morbiditätsbedingten
Gesamtvergütung gehören, erläuterte
Köhler. Voraussetzung dafür ist, dass
dies zu einer Verbesserung der ambu-
lanten Versorgung beiträgt und dass
die KV das Praxisnetz anerkennt. Die
KBV ist zurzeit dabei, Kriterien für
eine solche Anerkennung zu erstellen.
Dazu gehören etwa Versorgungsziele
und Qualitätsanforderungen. Denkbar
wäre ein Stufenmodell, das als ver-
bindliche erste Stufe die Eingangskrite-
rien festlegt, die ein Praxisnetz erfül-
len muss, um als förderungswürdig
anerkannt zu werden.
KS
Neuwahl im KBV-Vorstand
Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
Der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ist wieder
vollständig: Regina Feldmann, seit 2005 Vorsitzende der KV Thüringen,
ist neuer stellvertretender Vorstand und damit zuständig für den haus-
ärztlichen Versorgungsbereich. Die Vertreterversammlung der KBV
wählte die Fachärztin für Allgemeinmedizin im Vorfeld des Ärztetages in
Nürnberg im zweiten Wahlgang mit 31 von 60 abgegebenen Stimmen.
115. Deutscher Ärztetag
Das Hohe Lied der
Kooperation und Verzahnung
Der 115. Deutsche Ärztetag in Nürnberg blieb auch dieses Mal in
zentralen Forderungen seiner bisher verfochtenen Linie treu: Sich
nur nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen und mehr innovative,
zukunftsträchtige Konzepte propagieren und mehr Entschlussfreu-
digkeit praktizieren! Die Devise: Strukturanpassungen im Langsam-
schritt und im Konsens im ärztlichen Lager.