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| Interview

„Die Zeit voller Kassen ist vorbei“

Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz hat viel Kritik hervorgerufen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete und Internist Dr. Herbert Wollmann hofft, dass es ein Weckruf ist und man sich endlich ernsthaft daran macht, Effizienzreserven im System zu heben. Im Interview erläutert er, wo er außerdem Reformbedarf sieht.

© Photothek

BDI AKTUELL: Herr Dr. Wollmann, vor Ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag waren sie langjährig hausärztlich-internistisch tätig. Erlauben Sie uns folgende Frage: Fühlten Sie sich als Internist für die hausärztliche Tätigkeit ausreichend qualifiziert?

DR. HERBERT WOLLMANN: Ich komme als Kardiologe eigentlich aus der fachärztlichen Gruppe, habe aber mit einer Sonderzulassung für Echokardiographie die Praxis hausärztlich geführt. Ich muss dazu aber ergänzen, dass ich noch eine sehr breite Ausbildung, auch auf chirurgischem Sektor, genossen habe. Mindestens 70% der hausärztlichen Behandlungen sind internistisch geprägt. Also ist der Internist auch ein sehr guter Hausarzt.

Können Sie vor Ihrem persönlichen Hintergrund nachvollziehen, warum im SGB V hausärztlich tätigen Internisten, zum Beispiel in puncto Weiterbildungsförderung, weniger Rechte zugesprochen werden als Allgemeinmedizinern?

Das kann ich nicht, nein. Allerdings fehlt für diese Ungleichbehandlung hier in Berlin leider ein wenig das Bewusstsein. Ich werde in dieser Legislaturperiode versuchen, daran etwas zu ändern. Ich will allerdings auch kein Konkurrenzdenken zu den Fachärzten für Allgemeinmedizin aufbauen. Wir brauchen einander und ergänzen uns. Es sollten nur für beide die gleichen Bedingungen herrschen.

Entbudgetierung von hausärztlichen Leistungen, Gesundheitskioske und Community Health Nurses - im Koalitionsvertrag finden sich einige Vorhaben, um die wohnortnahe Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Können Sie uns schon Konkreteres zu diesen Projekten berichten?

Tatsächlich haben wir mit der AG Gesundheit der SPD erst vor wenigen Wochen den Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt-Horn besucht, den man ja durchaus als Leuchtturmprojekt für diese Versorgungsart bezeichnen kann. Dr. Dirk Heinrich berichtete uns von den Fortschritten, die in den vergangenen Jahren dort in der Gesundheitsversorgung vor Ort gemacht wurden. Ein unterstützenwertes Projekt, das sicherlich an vielen Orten einen Beitrag für einen niedrigschwelligen Zugang zum Gesundheitssystem leisten kann. Die Befürchtung einiger, diese Einrichtungen könnten eine Konkurrenz für niedergelassene Praxen sein, konnte ausgeräumt werden. Im Gegenteil, es ist nicht nur eine Ergänzung, sondern es schafft Erleichterung der ärztlichen ambulanten Versorgung durch Delegierung von Aufgaben und erweiterte Beratungsangebote. Hier wird es bald auch ein Eckpunktepapier aus dem BMG geben. Bei der Entbudgetierung und den Community Health Nurses sind wir noch nicht ganz so weit. Da wird man sehen müssen, was das Jahr 2023 bringt. Dringlich erscheint mir, ein einheitliches Curriculum für die akademische Ausbildung der Community Health Nurse zu entwickeln. Es kann nicht sein, dass hier jede Hochschule oder Einrichtung für sich etwas entwirft. Außerdem sollte man sich entsprechend dem International Council of Nurses darauf einigen, für den Einsatz und das Tätigkeitsfeld entsprechend qualifizierter Pflegekräfte einheitlich den Begriff Advanced Practice Nursing zu verwenden.

Nun zu einer aktuellen Gesetzesvorlage: Minister Lauterbach plant die Neupatientenregelung des TSVG im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes wieder abzuschaffen. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Die Bedenken der niedergelassenen Ärzte sind in den vergangenen Wochen von vielen Seiten an uns herangetragen worden. Wir nehmen das ernst und werden das auch noch einmal ins parlamentarische Verfahren mitnehmen. Allen Partner im System sollte aber auch klar sein, dass die Zeit voller Kassen vorbei ist. Das macht es nicht unbedingt leichter, es allen Recht zu machen. Glauben Sie mir: Nicht nur die Ärzte kommen mit Beschwerden bezüglich des Finanzstabilisierungsgesetzes auf mich zu. Ich hoffe, dass dies insgesamt ein Weckruf ist und man sich endlich ernsthaft daran macht, die Effizienzreserven des Systems zu heben.

Über das Finanzstabilisierungsgesetz hinausgedacht, was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten gesundheitspolitischen Reformprojekte der nächsten ein, zwei Jahre?

Mir ist die Reform der Notfallversorgung ein besonderes Anliegen – hier obliegt mir auch die Berichterstattung meiner Fraktion. Die Politik schiebt dieses Projekt nun schon seit vielen Jahren vor sich her, wir müssen hier endlich etwas bewegen. Ich weiß aus eigener Anschauung, wie vieles hier im Argen liegt. Darüber hinaus und abseits meiner persönlichen Zuständigkeiten sind sicherlich unsere verschiedenen Aktivitäten an der Sektorengrenze – Stichwort Hybrid-DRGs – und im stationären Bereich für die Zukunft des deutschen Gesundheitssystems von großer Wichtigkeit. Und das Dauerthema „Digitalisierung“ muss endlich zu Ergebnissen führen. Wir dürfen die ambulanten Einrichtungen und deren strapaziertes Personal dabei nicht im Regen stehen lassen.

Das Interview führte Dr. Kevin Schulte