StartseitePresseKontakt

| Interview

„Deutschland hinkt immer noch hinterher“

Ambulant vor stationär: Das IGES-Gutachten kann hier Tempo reinbringen, sagt IGES-Geschäftsführer Dr. Martin Albrecht im Interview. Aber, die Anpassung werde nicht ad hoc, sondern schrittweise erfolgen.

© IGES Institut

BDI: Herr Dr. Albrecht, Sie sind einer der Autoren des jüngst vom IGES Institut veröffentlichten Gutachten „Ambulantisierung von stationären Leistungen“. Können Sie uns kurz sagen, wie es überhaupt zu diesem Gutachten gekommen ist?
DR. MARTIN ALBRECHT: Ambulant vor stationär, dieses Motto hat sich die Politik seit Jahren auf die Fahnen geschrieben, um Kosten einzusparen. Im internationalen Vergleich hinkt Deutschland dabei allerdings immer noch hinterher. Helfen soll der Katalog für ambulantes Operieren, kurz AOPKatalog. Doch dieser wurde seit rund 15 Jahren kaum noch aktualisiert. Mit dem MDKReformgesetz aus dem Jahr 2020 hatte der Gesetzgeber nun festgelegt, dass der Katalog substanziell erweitert werden soll. Die Grundlagen dafür soll ein Gutachten schaffen, das wir nun vorgelegt haben.
Wie sind Sie methodisch vorgegangen, um die Leistungen zu identifizieren, die zukünftig ambulant erbracht werden könnten?
Wir haben einen sogenannten potenzialorientierten Ansatz gewählt. Das bedeutet, wir haben ganz offen und umfassend nach Leistungen geschaut, bei denen eine ambulante Durchführung zumindest in einem Teil der Fälle möglich wäre. Orientiert haben wir uns dabei an medizinischen Kriterien, an Einschätzungen der Fachgesellschaften und auch an Erfahrungen aus dem Ausland. Wir haben uns auch angeschaut, wie der derzeitige AOP-Katalog funktioniert, und haben AOP-nahe Versorgungsbereiche wie vor- oder teilstationäre Bereiche oder Fälle mit nur kurzen stationären Liegezeiten analysiert. Berücksichtigt wurden außerdem sogenannte ambulantsensitive Krankenhausfälle, also solche mit Diagnosen, die in der Regel ambulant versorgt werden könnten.
Viele dieser Leistungen werden wohl auch in Zukunft ambulant wie stationär erbracht werden. Hierüber wurde in der Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes tausendfach gestritten. Wie soll das in Zukunft besser werden?
Wir schlagen einerseits vor, den AOP-Katalog um eine hohe Zahl zusätzlicher Leistungen zu erweitern, andererseits aber auch, fallindividuell zu prüfen, ob eine stationäre Durchführung dieser Leistungen begründet werden kann. Hierzu enthält das Gutachten ein Konzept für eine sogenannte Kontextprüfung. Damit kann festgestellt werden, ob patientenbezogene Begleitumstände wie etwa bestimmte Grunderkrankungen dafürsprechen, die Leistung stationär zu erbringen. Weiterhin wird der Leistungskontext geprüft. Das bedeutet: Wenn die AOP-Leistung zusammen mit einer Leistung oder Diagnose erfolgt, die einen stationären Aufenthalt erforderlich machen, dann gilt das natürlich auch für sie selbst. Dabei ist die Kontextprüfung so konzipiert, dass sie weitgehend ohne bürokratischen Mehraufwand funktionieren würde.
Diese sogenannte Kontextprüfung könnte in Zukunft auch eine Rolle für die Höhe der Vergütung spielen. Gibt es hierzu schon konkretere Ideen?
Einen Teil der Kontextfaktoren schlagen wir für eine zusätzliche Schweregraddifferenzierung bei ambulanter Durchführung vor. Mit ihnen kann beurteilt werden, ob die ambulante Durchführung einer AOP-Leistung mit einem erhöhten perioperativen Aufwand oder erhöhtem Nachsorgebedarf verbunden wäre. Für solche erhöhten Schweregrade können dann entsprechend höhere Vergütungen der ambulanten Leistungserbringung vereinbart werden.
Nun liegt Ihr Gutachten vor. Wie geht es jetzt weiter?
Die drei Vertragsparteien – GKV-Spitzenverband, Deutsche Krankenhausgesellschaft und Kassenärztliche Bundesvereinigung – vereinbaren sowohl den erweiterten AOP-Katalog als auch für die darin enthaltenen Leistungen Vergütungen, die für Krankenhäuser und Vertragsärzte identisch sind, aber möglicherweise nach Schweregraden differieren. Es ist davon auszugehen, dass der AOP-Katalog schrittweise um zusätzliche Leistungen ergänzt wird, da sich die Voraussetzungen für die ambulante Durchführbarkeit der für eine Erweiterung empfohlenen Leistungen teilweise unterscheiden.
Herzlichen Dank für das Gespräch!


Das Interview führte PD Dr. med. Kevin Schulte, 2. Vizepräsident des BDI
Erschienen in BDIaktuell 06/2022