Die Frage, ob Patienten für Kopien ihrer Patientenakte zahlen müssen, war bisher rechtlich uneindeutig. Gemäß dem Patientenrechtegesetz war eine kostenpflichtige Herausgabe möglich, während die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) eine kostenlose Herausgabe vorsah. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat nun entschieden, dass nach der Datenschutzgrundverordnung der Patient das Recht hat, eine erste Kopie seiner Patientenakte zu erhalten, ohne dafür zusätzliche Kosten zu tragen und ohne dies begründen zu müssen (Az. C - 307/22).
Nach dem deutschen Patientenrechtegesetz (§§ 630f, 630g BGB) ist jeder Behandler verpflichtet, eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. Patienten haben das Recht, auf Verlangen Einsicht in ihre Akte zu erhalten und können auch elektronische Abschriften anfordern. Nach § 630g Abs.2 S.2 BGB kann der Behandler, wenn der Patient Kopien verlangt, diese kostenpflichtig abgeben.
Im Gegensatz dazu sieht die Datenschutzgrundverordnung in Art.15 Abs.3 DSGVO vor, dass der Behandler dem Patienten die Kopien kostenlos zur Verfügung stellen muss.
Da der Gesetzgeber das Verhältnis zwischen der europäischen Datenschutzgrundverordnung und den Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht geklärt hat, legte der Bundesgerichtshof (BGH) die Frage dem Europäische Gerichtshof vor. Den Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs kann man so verstehen, dass dieser von einem Vorrang des kostenpflichtigen deutschen Rechts ausgegangen ist.
Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass gemäß der Datenschutzgrundverordnung der Patient das Recht auf eine kostenlose erste Kopie seiner Patientenakte hat, ohne dies begründen zu müssen. Erst wenn der Patient bereits eine Kopie erhalten hat, können weitere Kopien kostenpflichtig sein. Die Begründung des Europäische Gerichtshofs beruhte darauf, dass der Behandler im Sinne der Datenschutzgrundverordnung für die Verarbeitung personenbezogener Daten des Patienten verantwortlich ist, was einen kostenfreien Auskunftsanspruch gemäß Art. 15 Abs. 3 DSGVO begründet.
Die Entscheidung des Europäische Gerichtshof vom 26.10.2023 ist für alle EU-Mitgliedstaaten bindend und betrifft sowohl den ärztlichen als auch den zahnärztlichen Bereich sowie die ambulante und stationäre Versorgung. Es wird erwartet, dass viele Patienten zukünftig verstärkt von ihrem unentgeltlichen Einsichtsrecht und Anspruch auf Kopien Gebrauch machen werden.
NEU: Ende Mai 2024 hat das Bundesjustizministerium die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufgegriffen und den Entwurf eines Gesetzes zur „Einsichtnahme in die Patientenakte und Vererblichkeit bei Persönlichkeitsrechtsverletzung“ vorgelegt. Durch die Neuregelung wird nunmehr § 630g BGB in Einklang mit dem europäischen Recht gebracht.
Welche Auswirkungen hat das auf Ihren Praxisalltag?
- Die Entscheidung sollte umgesetzt werden: Patienten, die Kopien ihrer Patientenakte anfordern, sollten diese ab sofort unentgeltlich erhalten. Dies gilt für erstmalige Anfragen.
- Dokumentation der kostenfreien Kopien: Die Tatsache, dass ein Patient unentgeltliche Kopien erhalten hat, sollte in der Patientenakte festgehalten werden. Es sollte vermerkt werden, wann und wie viele Kopien von wem an den Patienten gesendet wurden. Diese Dokumentation ermöglicht eine Abrechnung bei erneuten Anfragen nach Kopien.
- Offene Rechtsfrage in psychiatrischen Fachrichtungen: In Fachrichtungen wie Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik bleibt eine Rechtsfrage ungeklärt. Gemäß § 630g Abs.1 BGB kann die Einsichtnahme verweigert werden, wenn erhebliche therapeutische Gründe oder sonstige erhebliche Rechte Dritter entgegenstehen. Diese Regelung erlaubt das Schwärzen von Teilen der Akte, was der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs widersprechen könnte.
- Empfehlung für Behandler: Behandlern wird empfohlen, bei Vorliegen therapeutischer Gründe weiterhin Teile der Patientenakte im Interesse der Gesundheit des Patienten zu schwärzen. Im Falle einer Klage sollte der Behandler sich notfalls verklagen lassen. Gewinnt der Behandler den Prozess, kann das Schwärzen aus therapeutischen Gründen beibehalten werden. Bei einer Niederlage im Prozess muss das Vorgehen geändert werden, und der Behandler kann auf die Gerichtsentscheidung verweisen, die ihn zur Offenlegung zwingt.
- Kostenlose Auskunft nicht bei Angehörigen: Das Recht von Angehörigen von verstorbenen Patienten auf Akteneinsicht nach § 630g Abs.3 BGB ist eine Sonderregel des nationalen, deutschen Rechts. Die Regelung auf kostenlose erste Kopie aus Artikel 15 DSGVO gilt nur für den Patienten selbst. Bei Angehörigen kann also auch weiterhin bereits für die erste Kopie ein angemessenes Entgelt verlangt werden.